So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Ich spie ihr die Worte förmlich entgegen, während Mr Wapinski hinter mir wieder zu husten begonnen hatte.
»Wofür?«, fragte sie. Mittlerweile war ihr die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre Stimme klang so dünn und leise, dass ich glaubte, ich hätte mich verhört.
»Wofür?«, wiederholte ich lachend.
Mein Auftritt brachte sie völlig aus dem Konzept. Sie richtete ihre wässrigen Altweiberaugen auf mich und sah mich flehend an.
Wofür ? Mit einem Mal fiel der Groschen – mein großer Moment der Erkenntnis! Ebenso gut hätte der Himmel aufbrechen und mich in einen hellen Sonnenstrahl tauchen können. Endlich begriff ich! Nach fünfundzwanzig Jahren! Es war so klar wie ein Sommertag: Miss Fowler hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon ich redete.
Ich hatte keinerlei Bedeutung für sie.
Gar keine.
Nicht die geringste.
Sie hatte niemals auch nur einen zweiten Gedanken an mich verschwendet. Ich war nur eine ehemalige Schülerin, nicht mehr und nicht weniger.
Ich stieß einen Laut aus, halb Lachen, halb Schluchzen; jenen typischen Laut, mit dem man etwas Bedeutendes einfach loslässt. Genau in diesem Moment streifte ich alles ab. Alles. Meinen Hass, meine Wut, meine Verbitterung. Ich ließ einfach alles hinter mir. Sie war es nicht wert.
Ich hatte nichts mehr in diesem Zimmer, bei diesen Menschen zu suchen. Mit einem letzten Blick auf die erbärmliche Gestalt auf dem Bett machte ich kehrt und ging zur Tür.
Ich hatte bereits eine Hand auf die Türklinke gelegt, als mich Miss Fowlers Stimme innehalten ließ.
»Sag es mir!«, verlangte sie. »Wofür soll ich mich entschuldigen?«
Mühsam drehte ich mich noch einmal um; all meine Energie schien auf einen Schlag verflogen zu sein.
»Dafür, dass Sie meinen Namen nicht richtig ausgesprochen haben«, antwortete ich mit leiser, kraftloser Stimme, ehe ich die Tür hinter mir schloss.
Mein Name ist Caroline Stern. Bei der Arbeit nenne ich mich Lorrie Fischer, doch mein richtiger Name ist Caroline Stern. Ich bin stolz auf diesen Namen. Ich bin stolz auf das, was ich bin. Ich bin keine Mörderin.
Immer wieder übte ich vor Tilly, diese Sätze laut auszusprechen. Die Worte kamen mir nicht allzu leicht über die Lippen. Und Tilly schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein, sondern legte den Kopf auf die Pfoten und machte ein Nickerchen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all den Jahren festzustellen, dass ein Großteil meines Lebens auf einem Irrtum beruhte. Mein allergrößtes Geheimnis existierte gar nicht. Ich hatte den leisen Verdacht, dass sich hinter meiner Erleichterung auch ein Fünkchen Enttäuschung verbarg. Ich war keine Mörderin, sondern eine Mörderin, deren Tat fehlgeschlagen ist. Bislang hatte ich mich wenigstens eines winzigen Körnchens Erfolg rühmen können, wenn auch eines unredlichen. Nun hingegen war ich jemand, der etwas zu erreichen versucht hatte und gnadenlos gescheitert war. Ich persönlich sah keinen Grund, weshalb jemand, der einen Mordversuch begeht, weniger drastisch bestraft werden sollte als derjenige, der seine Tat vollendet. Wenn überhaupt, sollte es sogar umgekehrt sein. Sollten wir etwa für unsere Misserfolge auch noch belohnt werden? Aber so ist es nun einmal. Wir haben das große dicke Buch, das uns sagt, was richtig und was falsch ist, deshalb steht es uns nicht zu, es infrage zu stellen.
Meine Mutter war zutiefst bestürzt, dass ich es nicht geschafft hatte, bis zu ihr nach oben zu kommen, und beschloss, mich zu besuchen. Doch obwohl ich sie erwartete, war es ein Schock, als sie schließlich vor der Tür stand. Obgleich sie sichtlich gealtert war, hatte sie immer noch etwas Mädchenhaftes an sich. Sie war niemals eitel gewesen und hatte keinen Wert auf ihr Äußeres gelegt, was, wie sich nun zeigte, keine besonders kluge Idee gewesen war. Kein Make-up, keine gefärbten Haare, kein Versuch, sich in irgendeiner Weise hübsch zu machen. Großer Gott. Für Frauen wie sie füllten sie im Fernsehen ganze Sendungen. Nicht dass sie auch nur eine davon gesehen hätte. Sie sah älter aus als Miss Fowler, die in gewisser Weise vom Zahn der Zeit verschont geblieben zu sein schien.
Das Haar meiner Mutter war vollständig ergraut, außerdem hatte sie Tränensäcke, die ihrem Gesicht etwas Krötenhaftes verliehen. Sie lächelte mich an und strich sich das Haar aus dem Gesicht – es war die Geste eines Kindes. Bisher war mir ihr unschuldiges Gebaren nie aufgefallen, allerdings – wie hätte es auch? Schließlich
Weitere Kostenlose Bücher