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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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war ich selbst noch ein Kind gewesen, als wir uns das letzte Mal begegnet waren. Sie wirkte wie jemand, der niemals »Nein« zu jemandem oder zu etwas gesagt hatte. Sie war der Typ Frau, der sein Los klaglos und ohne zu hinterfragen erträgt. Und genau darum ging es allem Anschein nach – allumfassende Hingabe an die Herrlichkeit Gottes oder was auch immer sie sonst getan zu haben glaubte. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sie diejenige war, die bemuttert werden musste.
    Einen Moment lang starrten wir einander wortlos an, als müssten wir erst sichergehen, dass wir es auch waren – Mutter und Tochter. Wir fielen einander nicht in die Arme, wie wir es getan hätten, wären wir keine Sterns gewesen – nein, in meiner Familie tat man so etwas nicht. Die Sterns nickten lediglich und sagten »Hallo« und »Komm doch herein. Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?«, als hätten wir uns erst letzte Woche gesehen.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr das Gehen Mühe bereitete. Sie ging an Krücken und zitterte, als leide sie unter MS oder etwas in dieser Art. Der Weg hierher musste ziemlich beschwerlich gewesen sein, und ich konnte mich nur fragen, wie sie ihn bewerkstelligt hatte.
    Ich sah das Haus mit ihren Augen: modern und merkwürdig. Sie wusste nicht, wohin sie sehen sollte. Jedenfalls nicht in Richtung eines der Post-Renaissancekunstwerke, die mein Haus zierten. Umständlich zog sie ihre praktische Jacke aus. Es war eines dieser Exemplare mit einem »Windabweisend«-Schildchen, wie alte Männer an der Bushaltestelle sie tragen. Ich nahm sie ihr ab und hängte sie auf einen Bügel.
    Sie setzte sich auf die Kante des antiken, seidenbespannten Sofas mit dem Fettfleck, während ich in angemessener Entfernung gegenüber von ihr Platz nahm. Wieder sahen wir einander an. Diese elenden Organisationstypen waren so daran gewöhnt zu schweigen, dass es ihnen nicht das Geringste ausmachte.
    »Ich habe dir deine Geburtsurkunde mitgebracht«, sagte sie.
    »Danke.« Wie eine alte Schachtel begann sie in ihrer Handtasche zu kramen. Gleichzeitig konnte ich noch immer nicht fassen, dass sie wie ein Kind wirkte. Sie reichte mir das Dokument. »Caroline Ruth Stern, London, Borough of Islington.«
    Ich legte es auf den Kaffeetisch.
    »Was fehlt dir?«, fragte ich.
    »MS«, antwortete sie.
    »Oh.«
    »Ach, nun ja«, gab sie zurück, als wäre es eine Bagatelle. Ich sah ihr an, dass sie nicht darüber reden wollte, und mir fiel wieder ein, dass wir in unserer Familie niemals über wirklich wichtige Dinge geredet hatten. Sondern immer nur über das Absolute, die große Wahrheit und all diesen Mist.
    »Ich bekomme ein Baby«, sagte ich.
    Ich registrierte den überraschten Ausdruck in ihren Augen, als sie sich mit zitternden Fingern die Brille hochschob. Ich war nicht sicher, ob ich oder diese Krankheit sie so nervös machten. Trotzdem schien sie sich aufrichtig zu freuen. Ich erinnerte mich an ihr Lächeln, an ihre großen, beinahe pferdeartigen Zähne, an ihre Augen, weit aufgerissen wie die eines Kindes.
    »Und ich werde es allein großziehen«, fügte ich hinzu, um zu verhindern, dass sie sich von ihrer Freunde übermannen ließ.
    »Verstehe«, meinte sie ein wenig gedämpft und blickte blinzelnd in ihren Schoß, während sie die Neuigkeiten verdaute.
    »Ich werde ihn Thomas nennen«, fuhr ich fort.
    Ich hörte, wie sie kurz nach Luft schnappte, und fühlte mich, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. Ihre Wangen röteten sich. Sie sah aus dem Fenster und ließ leise die Luft durch ihre geschürzten Lippen entweichen. Offenbar versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten.
    »Milch? Zucker?«, fragte ich und stand auf.
    »Äh …«, stammelte sie abwesend. »Nur Milch, danke, Caroline.«
    Ich spürte ihren Blick im Rücken, als ich hinausging. Während ich mich um den Tee kümmerte, beobachtete ich durch die Küchentür, wie sie sich bückte und Tilly streichelte, die die Aufmerksamkeit sichtlich genoss und ihr auf den Schoß sprang. Wie unkritisch Hunde doch bei der Verteilung ihrer Zuneigung sind. Meine Mutter streichelte sie liebevoll. Ich hatte völlig vergessen, was für eine Tiernärrin sie war.
    Als ich zurückkehrte, war Tilly auf ihrem Schoß eingeschlafen, während meine Mutter sie noch immer kraulte. Schweigend saßen wir da und nippten an unserem Tee.
    Schließlich stellte meine Mutter ihre Tasse auf den niedrigen Tisch. »Dein Vater ist letztes Jahr gestorben.«
    »Ich habe es gehört.«
    »An einem

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