So still die Nacht
Lucindas Leichnam für weitere gerichtsmedizinische Untersuchungen einzubehalten. Angesichts der Tatsache, dass der Polizeiarzt dazu neigte, auf eine Krankheit zu schließen, hatte Lord Trafford im Interesse der Wissenschaft und der öffentlichen Gesundheit zugestimmt.
Aufgrund der Umstände und Lord Traffords Wunsch entsprechend würde es nur einen kleinen Gedenkgottesdienst für Lucinda geben, in der Kapelle, an dem lediglich die engsten Familienmitglieder und Freunde teilnehmen würden. Weil die Mädchen noch immer zu erregt waren, half Mina ihrem Onkel, Briefe an ihre Verwandten und Freunde zu schreiben, nah und fern, und sie über den Tod seiner Frau in Kenntnis zu setzen. Lord Trafford berichtete außerdem von seinen Plänen, mit den Mädchen nach dem Gottesdienst für drei Wochen auf seinen Besitz in Lancashire zu fahren. Die Stadt und all die Aufmerksamkeiten in der Folge des Todes seiner Ehefrau erwiesen sich als zu viel für ihn.
Mina ihrerseits konnte das nagende Schuldgefühl nicht abschütteln – dass sie das Unglück über die Familie gebracht hatte und dafür verantwortlich war, dass Lucinda rekrutiert worden und deshalb gestorben war. Am späten Abend kehrten sie und Mark ins Savoy zurück, wo weitere Blumen und weitere Nachrichten angeliefert worden waren. Sie lasen sie beim Abendessen – kaltes Huhn mit Salat –, das die Hotelküche nach oben geschickt hatte.
Stirnrunzelnd betrachtete Mina die Karten und die aufgerissenen Umschläge. »Es ist nichts von meinem Vater dabei.«
Mark faltete die Zeitung zusammen. Es hatte nichts von weiteren Leichenteilen darin gestanden, die an der Themse entdeckt worden waren.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte er. »Die Nachricht von unserer Hochzeit stand erst gestern in der Zeitung, und heute steht Lucindas Nachruf darin. Er wird alles lesen. Er wird sich mit dir in Verbindung setzen. Welcher Vater würde das nicht tun?«
Mina lächelte hoffnungsvoll. »Du hast recht, weißt du. Ich war so wütend, weil er mich auf diesem Berg allein gelassen hat, aber … er hat nur getan, was er seiner Meinung nach tun musste, um mich zu beschützen. Ich glaube nicht, dass es ihm je in den Sinn gekommen ist, dass sie sich an mich heranmachen würden.«
»Mir auch nicht«, antwortete Mark, aber seine Gedanken galten bereits dem dunkler werdenden Himmel draußen vor ihrem Fenster. Sein Instinkt forderte ihn auf, in die Stadt hinauszugehen, die Nacht auf den Straßen zu verbringen und seine Fühler auszustrecken – auf der Suche nach dem Professor oder um einen Eindruck zu gewinnen, welches Böse sich da draußen herumtrieb. Sobald das Haus fertig war, morgen vielleicht, konnte er Mina unter Leesons Schutz zurücklassen. Aber heute blieben ihm keine anderen interessanten Möglichkeiten, seine Zeit zu verbringen … seine innere männliche Uhr zählte die Minuten, bis er sie in ihrem Hotelbett verführen konnte.
Es klopfte an der Tür. Mark stand vom Tisch auf und öffnete. Ein gut aussehender junger Mann in voller königlicher Livree stand im Flur.
Mark kehrte mit einem großen quadratischen Umschlag und einem breiten Lächeln zu Mina zurück. »Post vom Stallmeister.«
»Einem königlichen Stallmeister?« Mina sprang vom Stuhl auf, um ihn am Arm zu berühren. »Öffne sie. Was steht drin?«
Mark hob die Lasche an und zog eine dicke Karte aus dem Umschlag. Während er las, umspielte ein träges Lächeln seine Lippen.
»Was ist es?«
Zwischen zwei Fingern ließ er die Karte rotieren.
Ihr Blick überflog sie schnell: Royal Arms … Ascot … Einlassen Viscount und Viscountess Alexander.
15
Minas Augen weiteten sich. »Der Prinz von Wales hat uns nach Ascot eingeladen?«
»Nicht einfach nur nach Ascot, Liebling«, murmelte er. »In die königliche Loge.«
Ihr Gesicht leuchtete auf. »Kennst du den Prinzen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich denke schon.«
»Du denkst schon .« Sie drückte seinen Arm. »Kann ich die Einladung überhaupt annehmen? Ich bin jetzt in zweifacher Trauer. Um meinen Vater und um Lucinda.«
»Genau wie ich. Ich bin dein Ehemann. Aber es gehen durchaus Leute während ihrer Trauerzeit nach Ascot. Darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen.« Er grinste.
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Wenn du dir sicher bist. Ich würde liebend gern annehmen.«
»Wir können nicht mehr auffallen als in der königlichen Loge in Ascot. Man wird uns gewiss in den Zeitungen erwähnen.«
»Du hast recht.« Sie berührte mit den Fingerspitzen ihr
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