So still die Toten
und beobachtete sie? Ihr Herz schlug heftig. Das Signal des Aufzugs erklang. Ein Stockwerk war geschafft. Die Schritte gingen auf und ab, auf und ab.
»Komm schon, verdammt noch mal.« Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Wieder erklang das Aufzugsignal. Noch ein Stockwerk, bis er bei ihr war.
Angestrengt spähte sie über das Parkdeck und fragte sich erneut, wieso der, der dort stand, nicht herauskam. Es war beinahe so, als wollte er oder sie nicht gesehen werden.
Ding. Ding. Ding.
Und dann gingen die Türen auf. Die Erleichterung, die in ihr aufstieg, war so übermächtig, dass sie beim Betreten des Aufzugs beinahe gestolpert wäre. Sechsmal drückte sie auf den Knopf zum Erdgeschoss, während sie in Richtung der Schatten starrte.
Als die Türen sich gerade schlossen, tauchte am Rand ihres Blickfelds ein Mann auf. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie hatte das beängstigende Gefühl, dass er in ihre Richtung starrte.
Das Gefühl, dass jemand sie verfolgt und beobachtet hatte, begleitete sie, während der Aufzug zum Erdgeschoss hochfuhr, und danach den ganzen Block bis zu Wellington & James.
Als sie die Backsteinstufen des Gebäudes aus dem neunzehnten Jahrhundert emporstieg, war sie zutiefst erleichtert. Zu beiden Seiten der glänzenden, schwarzen Eingangstür befanden sich doppelt verglaste Fenster. Auf den Fensterbänken Blumenkästen, aus denen rote Geranien quollen, die das kühle Wetter bisher überlebt hatten und einen Farbtupfer hinzufügten.
Nach außen wirkte alles traditionell und ganz im Kolonialstil des historischen Viertels von Alexandria. Doch Angies Chefin, Charlotte Wellington, war eine große Verfechterin von Sicherheitssystemen. Das bedeutete, dass die klassisch wirkende Eingangstür über eine hochmoderne Schließanlage verfügte. Entweder man gab auf dem Ziffernblock neben der Eingangstür einen Code ein, oder man wurde über den elektrischen Türöffner in den Eingangsbereich gelassen. Niemand konnte die Büros von Wellington & James einfach so betreten.
Angie gab den Code ein, wartete, bis das Schloss aufging, und zog rasch die Tür auf. In der Eingangshalle saß ihre Schwester Eva.
Eva war achtundzwanzig, vier Jahre jünger als Angie, doch sie hätte als Teenager durchgehen können. Ihr glattes schwarzes Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht, und wegen ihrer zierlichen Gestalt und der Tatsache, dass sie normalerweise Jeans und schwarze T-Shirts trug, hielten die Leute sie oft für einen harmlosen Jungen, was ein Fehler war.
Eva verfügte über eine herausragende Intelligenz. Die Vorlesungen und Kurse, die sie im Laufe des letzten Jahres am College belegt hatte, hatte sie mit Leichtigkeit geschafft. Im nächsten Sommer würde sie ihren Abschluss in Englisch und Sozialwesen machen.
In ihrem bisherigen Leben hatte Eva so viel Schlimmes durchlitten, dass sie leicht hätte verbittern können, doch sie hatte dem Zorn nie nachgegeben. Ihr Motto hieß: Immer nach vorne schauen.
Als Angie hereinkam, stand Eva auf und nahm ihren Rucksack vom Boden. »Hey!«
Angie durchquerte den Raum und umarmte ihre Schwester. Sie waren so lange getrennt gewesen, dass Angie sich geschworen hatte, selbst simple Anlässe wie eine Begrüßung nie ungenutzt verstreichen zu lassen.
Eva erwiderte die Umarmung. »Eure Empfangsdame, Iris, hat mich reingelassen. Sie musste nur mal kurz weg, um sich einen Kaffee zu holen. Kommt aber jeden Moment wieder.«
»Iris ohne Kaffee geht gar nicht.« Angie betrachtete Evas blasse Haut und die leichten Augenringe. »Geht’s dir gut?«
»Ich brenne die Kerze nur an beiden Enden ab. Muss wohl zu viel Leben nachholen.«
»Und was führt dich heute Morgen hierher?«, fragte Angie.
»Eine Frau aus dem Übergangswohnheim. Sie steckt in Schwierigkeiten. Du musst mir einen Gefallen tun.«
Während des letzten Jahres hatte Eva sie niemals auch nur um einen einzigen Gefallen gebeten. »Komm mit in mein Büro.«
Angie ging durch einen Flur voran, der dunkelgrün gestrichen und mit teuer aussehenden Landschaftsgemälden dekoriert war. Charlotte Wellington war ein großer Fan des alten Virginia und liebte einen gediegenen Einrichtungsstil, der, wie sie meinte, auch von ihren Mandanten bevorzugt wurde. Angie wäre ein moderner, schlichterer Stil lieber gewesen, doch solange sie nicht Teilhaberin war, hatte sie in diesen Dingen kein Mitspracherecht.
Die Einrichtung in Angies Büro entsprach dem im Rest der Kanzlei, doch ihre Bücherregale waren nicht mit in Leder
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