So still die Toten
Verbindung ihrer Familie zur Familie Cross weiter zurückreichte als bis zu der unglückseligen Nacht, in der Josiah Eva vergewaltigt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass Darius Cross’ Rachedurst von Trauer über den Tod seines Sohnes motiviert gewesen war. Doch jetzt sah es so aus, als hätte Josiahs Vater Evas und Angies Geschichte besser gekannt als sie selbst. Sie betrachtete die Gesichter der Männer auf dem Foto und erkannte in dem Mann, der ganz rechts stand, Darius Cross. Vor dreißig Jahren musste er um die Vierzig gewesen sein. Er war eine eindrucksvolle Gestalt. Sein Haar war voll und nur an den Schläfen ergraut. Seine Haut war tief gebräunt, die Zähne gleichmäßig und strahlend weiß. Micah kam sehr nach seinem Vater.
Der Darius Cross, an den Angie sich erinnerte, war dicker gewesen, sein Haar schütter und die Wangenknochen nicht mehr so prägnant. Während des Prozesses hatten Zorn und Misstrauen in seinen Augen gelegen, nicht Freude.
Mit dem Finger fuhr Angie die Umrisse von Darius’ Gesicht nach. Zwischen ihrer Familie und der Familie Cross gab es seit Ewigkeiten eine Verbindung, und diese Tatsache jagte ihr Angst ein und erfüllte sie mit tiefem Unbehagen.
Sie nahm den Hörer ab und wählte Evas Handynummer. Sie hatte die Nachforschungen ohne Wissen ihrer Schwester in Auftrag gegeben, aber sie konnte das Ergebnis nicht für sich behalten. Eva hat ein Recht darauf, zu erfahren, was aus ihrem Vater geworden war.
Und vielleicht würde diese Information Evas frühesten Erinnerungen auf die Sprünge helfen, und sie würden mehr über die Verbindung zwischen den beiden Familien erfahren.
»Hier spricht Eva«
, erklang es aus der Mailbox.
»Ihr kennt mich ja, ich vergesse immer mein Handy, aber hinterlasst bitte eine Nachricht.«
»Herrgott, Eva, ich werde dir dieses Telefon noch implantieren lassen. Ruf mich bitte zurück.« Heftig klappte Angie ihr Handy zu.
Was sie mit ihrer Schwester zu besprechen hatte, würde warten müssen, bis Eva zurückrief oder bis sie selbst zum Abendessen ins King’s ging.
Malcolm kam um kurz nach zehn bei Vivian Sweet an. Sie wohnte in einem kleinen, einstöckigen Haus, das ein wenig abseits der Glebe Road lag. Wie die Nachbarhäuser war es nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden, und trotz der kleinen Grundstücke verkauften sich die Häuser in dieser Gegend schnell, wenn mal eins auf den Markt kam. Die Häuser rechts und links von Mrs Sweets Haus sahen so aus, als wären sie saniert worden. Offensichtlich hatten die früheren Besitzer sie an jüngere, gut verdienende Leute verkauft. Mrs Sweets Haus dagegen wirkte altmodisch und heruntergekommen, als hätte es schon lange keine frische Farbe mehr gesehen.
Malcolm stieg die Backsteinstufen hoch und klingelte. In einem Blumenkübel neben der Tür wuchsen orangefarbene Chrysanthemen mit welken Blüten, und von einem rostigen Eisengeländer blätterte schwarze Farbe.
Sekunden vergingen, ohne dass jemand öffnete. Malcolm klingelte erneut und versuchte, durch ein großes Panoramafenster neben der Treppe ins Haus zu schauen, doch die Vorhänge waren zugezogen.
Zwischen Lulu Sweet und Sierra Day hatten sie bisher keine Verbindung feststellen können. Die meisten Leute hätten es fragwürdig gefunden, dass er seinen Vormittag mit der Suche nach Lulu verbrachte, obwohl er mitten in einer Mordermittlung steckte. Aber in Sierras Fall gab es immer noch keine heiße Spur. Und je mehr Zeit ohne ein Lebenszeichen von Lulu verging, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass die beiden Fälle irgendwie zusammenhingen.
Endlich hörte er Schritte hinter der Haustür. Eine Kette wurde geöffnet, ein Riegel zur Seite geschoben, und die Tür ging auf.
Hinter der Fliegengittertür stand eine gertenschlanke Frau, die einen blauen Hauskittel und Pantoffeln trug. Aus dem Haus drang Babygeschrei.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.
»Mrs Vivian Sweet?«
»Ja.«
Malcolm zog seine Polizeimarke aus der Brusttasche. »Ich bin Detective Kier von der Alexandria City Police.«
Das Weinen des Babys wurde lauter und zorniger. »Kommen Sie wegen Lulu?«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie sind nicht der erste Polizist, der vor meiner Tür steht und nach Lulu fragt. Sie gerät öfters in Schwierigkeiten.«
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen über Ihre Tochter stellen?«
Mrs Sweet warf einen Blick über die Schulter in Richtung des Babygeschreis. »Ich muss nach meinem Enkel sehen.«
Malcolm grinste. »Der Junge hat
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