So still die Toten
ich. Sie wird den Teufel nicht an die Wand malen, dafür wird sie sich zu sehr freuen.«
»Ich habe es Angie gesagt.«
»Und?«
»Sie hat sich gefreut. Sie meinte, ich müsse es dir sagen.«
Er seufzte. »Punkt für sie.«
»Der Moment war ein bisschen unglücklich gewählt.«
»Wieso das denn?«
»Sie hat einen Detektiv engagiert, um meinen Vater zu finden.«
Garrison runzelte die Stirn. »Und?«
»Sie hat ihn tatsächlich gefunden oder jedenfalls einiges über ihn herausbekommen. Und du wirst nie erraten, wen er früher mal gekannt hat.«
Nachdem Angie Kier viel zu viel Persönliches über sich erzählt hatte, fühlte sie sich verlegen und beschämt. Also zahlte sie trotz seines Protests für sie beide und erfand eine Ausrede über Arbeit und Fristen. Sie verließ das King’s, ohne das Ergebnis der Aussprache zwischen Eva und Garrison abzuwarten. Offenbar redeten die beiden immer noch, was sicher ein gutes Zeichen war.
Es erschien nur vernünftig, in die Kanzlei zurückzukehren. Arbeit gab es immer genug. Doch Angie ertrug die Vorstellung nicht, stundenlang auf Prozessunterlagen zu starren. Sie war innerlich zu rastlos und zu aufgedreht. Heute Nacht würde sie nicht so schnell einschlafen können.
Sie fuhr los, ohne recht zu wissen, wohin. Das Fitnessstudio war geschlossen. Freunde hatte sie auch nicht allzu viele. Sie arbeitete, trieb Sport und traf sich mit ihrer Schwester. Ihr Leben war auf einen ziemlich engen Radius zusammengeschrumpft – etwas, das sie, außer in ruhigen Momenten wie diesem, ignorieren konnte. Sie fuhr immer weiter, bis sie sich auf einmal in dem Wohnviertel von Vivian Sweet wiederfand. Nach dem Gespräch im Gericht hatte sie sich die Adresse gemerkt.
Es war nach zwanzig Uhr, nicht die beste Zeit für einen Besuch. Dennoch verlangsamte sie ihr Tempo vor dem Haus von Lulu Sweets Mutter. Im Zimmer zur Straße brannte Licht. Die Jalousie war heruntergelassen, doch im Inneren sah sie einen Schatten, der sich bewegte.
Angie stellte den Wagen ab, stieg aus und klingelte.
Schritte näherten sich der Tür, dann fragte Vivian: »Wer ist da?«
»Angie Carlson. Wir haben uns neulich bei Gericht getroffen.«
Eine Kette klapperte, die Tür ging auf, und Vivian stand mit dem schlafenden David auf dem Arm vor ihr. Sein Kopf lag an ihrer Schulter, die Augen waren halb geöffnet, und er hatte den Daumen im Mund, sah jedoch so aus, als würde er sich mit allen Mitteln gegen den Schlaf wehren.
Vivian war die Verwirrung deutlich anzusehen. »Mrs Carlson?«
Angie knetete ihre Finger und wünschte sich, sie hätte Hosentaschen gehabt oder irgendwas zum Festhalten. Nur selten musste sie wie jetzt gerade nach Worten suchen. »Ich war in der Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei und erkundige mich, ob Sie etwas von Lulu gehört haben.«
Beim Klang von Angies Stimme regte sich das Baby. Es hob den Kopf, sah sie an und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Etwas in ihrem Inneren zog sich zusammen, als sie den Jungen ansah.
»Nein, ich habe nichts von ihr gehört«, erwiderte Vivian. »Falls Sie kurz Zeit haben, möchten Sie vielleicht hereinkommen?«
»Gern.«
Vivian trat beiseite und hielt Angie die Tür auf, wobei der Ärmel von Vivians Morgenmantel hochrutschte und ihr bleicher, magerer Arm sichtbar wurde. Dicht unter der Haut verliefen dicke blaue Adern. »Setzen Sie sich doch.«
Angie blickte zu dem Sofa hinüber, über das eine verblichene Tagesdecke mit Blumenmuster gebreitet war. Am einen Ende lag ein Stapel ordentlich gefalteter Babykleidung. Angie setzte sich auf die Seite des Sofas, die dem Sessel, auf dem Vivian Platz nahm, am nächsten war.
David war nun hellwach und betrachtete Angie neugierig. Schlaf war offensichtlich das Letzte, was er jetzt im Sinn hatte.
»Ich habe Ihre Abendroutine durcheinandergebracht«, meinte Angie schuldbewusst. »Wenn ich nicht geklingelt hätte, würde er jetzt schlafen.«
Vivian klopfte dem Baby auf den Rücken. »Ach was. Ich muss sowieso mit jemandem über etwas reden, das mir im Kopf herumgeht.«
»Gern.«
Einen Augenblick lang schwieg Vivian, als müsse sie ihre Gedanken ordnen. »Ich hätte nie damit gerechnet, noch einmal Mutter zu werden«, sagte sie schließlich. »Bei Lulus Geburt war ich über vierzig, und jetzt werde ich dreiundsechzig.«
Angie versuchte, den Blick nicht von der Frau abzuwenden, doch unwillkürlich wanderte er immer wieder zu dem Baby. Sie hätte es gerne auf den Arm genommen, aber danach zu fragen, erschien ihr
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