So still die Toten
irgendwie unpassend. »Er macht einen gesunden und glücklichen Eindruck.«
»Ich tue mein Möglichstes. Aber über die Zukunft mache ich mir Sorgen. Wenn er in die Schule kommt, gehe ich auf die Siebzig zu.«
Das Baby streckte die Arme nach Angie aus und beugte sich zu ihr vor. Sie hob die Hände, um ihn aufzufangen. Vivian lockerte ihren Griff und ließ den Jungen in Angies Arme gleiten.
Sein kleiner Körper war überraschend kräftig. Bestimmt würde er zu einem stattlichen Mann heranwachsen. Er würde eher die Konstitution für Fußball oder Rugby haben als für Laufen oder Schwimmen. »Wer ist Davids Vater?«
»Das weiß Lulu nicht. In der Zeit, als sie schwanger wurde, war ihr Leben ein einziges Durcheinander, und sie hat ein paar furchtbar falsche Entscheidungen getroffen.«
»Gibt es irgendjemanden, der Ihnen helfen könnte?«
»Mein Mann ist vor fünfzehn Jahren gestorben, und ich habe keine Geschwister. Ms Carlson, ich habe Angst. Was ist, wenn Lulu nicht mehr zurückkommt? Und falls sie zurückkommt, in welcher Verfassung wird sie dann sein?«
Angie fiel beim besten Willen nichts Ermutigendes ein. »Ich weiß es nicht.«
»Ich will nicht, dass David in staatliche Fürsorge kommt. Ich will nicht, dass er zu Fremden kommt.«
»Gibt es eine Nachbarin oder sonst jemanden, den Sie kennen, der sein Vormund werden könnte?«
»Darf ich das überhaupt? Ich habe das Sorgerecht, aber ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, Entscheidungen über Davids Zukunft zu treffen.«
»Ich bin keine Expertin für Familienrecht, aber ich kann mich erkundigen und herausfinden, welche Möglichkeiten Sie haben.«
»Ich habe kein Geld, um Sie oder einen anderen Anwalt zu bezahlen.«
Davids Hemdchen war nach oben gerutscht, und Angie zog es wieder dahin, wo es hingehörte. »Ich stelle keine Rechnung. Es ist mir wichtig, dass er gut versorgt wird. Das schulde ich Lulu.«
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« Vivian schüttelte den Kopf. »Als ich vor zwei Jahren in dem Gerichtssaal gesessen und gesehen habe, wie Sie Lulu auseinandergenommen haben, hätte ich nie gedacht, dass Sie mich ein Mal zum Lächeln bringen würden.«
Angie klopfte David auf den Rücken. Er machte ein Bäuerchen. Nicht immer bereiteten ihr ihre beruflichen Verpflichtungen Spaß. »Als Anwältin musste ich das tun.«
Vivian nickte. »Nicht alles, was man tun muss, tut man gern. Ich hätte mir auch nie träumen lassen, dass ich ein Mal meine eigene Tochter wegen ihres Kindes vor Gericht zerren würde.«
Der Körper der alten Frau verkrampfte sich, und sie schloss die Augen. Ihr Gesicht wurde kalkweiß. Sie beugte sich vor, als müsste sie sich übergeben.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Angie. Sie legte eine Hand um den Oberkörper des Babys und streckte die andere nach Vivian aus. Ihre Haut fühlte sich eiskalt an.
Vivian atmete tief ein und aus. »Hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass gerade etwas Schreckliches passiert?«
»Natürlich.«
»Nun, so ein Gefühl habe ich jetzt.« Als sie den Blick hob, standen Tränen in ihren Augen. »Ich habe das schreckliche Gefühl, dass Lulu gerade stirbt.«
Forschend sah Lulu in die dunklen Augen des Neuen. Sie betete, dass er sie freilassen würde, fürchtete aber, dass er sie genau wie sein Partner missbrauchen würde.
Die letzten Stunden mit dem anderen Mann waren eine endlose Abfolge von Sex und Gewalt gewesen. Er hatte Spaß daran gehabt, ihr wehzutun und ihr zu sagen, dass sie genau das bekam, was sie verdiente. Inzwischen war ihr Körper so zerschunden, dass sie vermutlich nicht einmal würde weglaufen können, wenn der Neuankömmling die Tür weit öffnete.
Der Mann hielt eine Spritze mit der Nadel nach oben und drückte so lange, bis ein paar Tropfen Flüssigkeit herausspritzten.
Auch ohne dass er etwas sagte, wusste sie, dass die Spritze ihr den Schmerz für immer nehmen würde. Nie wieder würde sie mit Drogen oder beschissenen Jobs zu kämpfen haben. Nie wieder würde sie nachts wach liegen, von Schuldgefühlen zerfressen, und über all die Dinge nachdenken, bei denen sie versagt hatte. Nie wieder würde sie träumen, dass man ihr David wegnahm. Die Spritze war ein Angebot, frei zu sein.
Aber es war eine Freiheit, die sie nicht wollte.
»Wo ist der andere?«, fragte sie.
»Er ist gegangen.«
»Warum?«
»Er ist fertig mit dir. Jetzt bin ich an der Reihe.«
»Werden Sie mir auch wehtun?«
»Nein. Ich tue dir nicht weh.«
»Ich will leben«, sagte sie. Ihre Kehle
Weitere Kostenlose Bücher