So unerreichbar nah
wir
zusammen.
Ich
stellte eine volle Box Kleenex auf den Couchtisch, suchte meine lustigsten DVDs
heraus und legte ausreichend Chips und Schokolade bereit, da mir der Ablauf des
Nachmittages hinreichend bekannt war:
Lisa würde
mir die Trennung und deren Gründe ausgiebig schildern, weinen, Unmengen an
Taschentüchern verbrauchen, ich würde ihr moralische Unterstützung liefern,
indem ich ihr versicherte, sie habe das Richtige getan und dann würden wir uns
hemmungslos Tom und Jerry, Asterix und Obelix oder andere lustige Zeichentrickfilme,
in denen keine Liebesszenen vorkamen, reinziehen und unsere Figuren mit Chips
und Schokopralinen ruinieren. Das war zwar aus therapeutischer Sicht völlig
unprofessionell, aber, so tröstete ich mich selbst, sie wollte keine Therapie,
sondern einfach Loyalität und mitfühlenden Beistand. Und beides hatte sie sich
von mir auf Lebenszeit verdient:
Lisa, die
genauso alt war wie ich und ihre Eltern, die vor zwanzig Jahren in Dachau
direkt neben das Haus meiner Eltern gebaut hatten und immer noch dort wohnten, waren
mein Rettungsanker gewesen, als ich mit knapp sechzehn Jahren innerhalb von
neun Monaten beide Elternteile verloren hatte. Zuerst war mein Vater kurz vor
Weihnachten an einem unerwarteten Herzinfarkt gestorben. Meine Mutter hatte
seinen plötzlichen Tod nicht verkraftet und folgte ihm im September nach einer
rasch fortschreitenden Krebserkrankung. Da meine Eltern beide Einzelkinder gewesen
waren und es sonst keine lebenden Verwandten gab, stand ich plötzlich
mutterseelenallein da und hätte bis zur Volljährigkeit bei Pflegeeltern oder in
einem Heim wohnen müssen. Lisa erklärte kategorisch, das käme nicht infrage und
sprach mit ihrer Mutter. Elsa und Armin, Lisas Eltern, standen mir in dieser
schweren Zeit in jeder Hinsicht bei und boten mir nach erfolgtem Verkauf meines
Elternhauses ihr bisheriges Gästezimmer an. Ich zog bei ihnen ein und Lisa war
für mich die Schwester geworden, die ich als Einzelkind nie gehabt hatte. Wir
waren unzertrennlich, studierten in München und sie fand ihren langersehnten
Traumjob in einer Werbeagentur.
Als ich
ebenfalls auf eigenen Füßen stand und in dem Haus, in welchem sie ihre Wohnung
bezogen hatte, eine Zweizimmerwohnung frei wurde, mietete ich diese sofort.
Elsa vertraute mir an, sie sei froh, dass ihre beiden Mädels weiterhin zusammen
wären. Sie und ihr Mann hatten sich nach unserem Auszug eine Wohnung in Spanien
gekauft, in welcher sie den größten Teil des Jahres verbrachten.
Abends, als
Lisa halbwegs getröstet, seelisch wieder aufgebaut und nach eigenen Worten
mindestens zwei Kilo schwerer nach oben in ihre eigenen vier Wände entschwunden
war, brannten mir die Augen von unserem Bildschirmmarathon. Ich fühlte mich von
der vielen Schokolade und den salzigen Chips unangenehm aufgebläht und brauchte
dringend Bewegung. Deshalb marschierte ich noch eine Viertelstunde lang stramm
um den Block, bevor ich in mein Bett kroch.
A SLIGHT DISCOMFORT
Etwa vier
Wochen später betrat ich an einem Montagmorgen gutgelaunt unsere Praxisräume
und registrierte erstaunt, dass Johannes und Max bei Silvia, unserer
Empfangsdame, standen und sich bei meinem Eintreten kurz anblickten, bevor sie
mir entgegenlächelten. Neugierig geworden erkundigte ich mich:
»Nanu, womit
habe ich ein Empfangskomitee verdient? Schönen guten Morgen übrigens. Habt ihr
auf mich gewartet?«
Johannes, der
Forschere meiner beiden Studienkollegen, nickte mit dem Kopf. Er war groß, mit
leichtem Bauchansatz, trug Brille und Vollbart und entsprach dem Klischee eines
väterlichen Therapeuten, während Max, klein, schlank und mit Halbglatze,
optisch den genauen Gegensatz zu ihm bildete.
»Morgen, Tessa.
Ja, wir müssen eine Lagebesprechung abhalten. Wann hast du Zeit?«
Wir
verabredeten uns für nachmittags um vier in Max´ Zimmer. Ich begann mit meiner
ersten Patientin, die kurz darauf erschien und machte mir keine Gedanken über
den Grund dieser Zusammenkunft. Vermutlich ging es um irgendwelche
Abrechnungsmodalitäten mit den Krankenkassen, Fortbildungen oder
Urlaubsvertretung.
Margarete
Richter beanspruchte meine gesamte Konzentration. Sie lebte allein, kam bereits
zum dritten Mal zu mir und hatte ein handfestes Problem mit der männlichen
Bevölkerung. Genauer gesagt, sie hasste Männer wie die Pest und empfand sie als
völlig überflüssig, was sie ihnen gegenüber bei jeder Gelegenheit verbal sehr
deutlich zum Ausdruck
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