So unerreichbar nah
mich. Lisa
und ihre Eltern hatten mir zu meinem letzten Geburtstag den Kindle geschenkt
und aus Höflichkeit ihnen gegenüber hatte ich Freude geheuchelt, obwohl das
innere Entsetzen überwog. Wie konnte man nur glauben, dass dieses dünne windige
Plastikteil ein BUCH ersetzen würde?
Zum
Lesegenuss gehörte meiner Ansicht nach unbedingt, das Gewicht eines gedruckten Buches
in der Hand zu halten, mit den Fingern die dünnen Papierseiten umzublättern,
das Knacken des bisher unberührten Buchrückens bei neuen Exemplaren zu hören
und die frische Druckerschwärze zu riechen. Ich stöberte leidenschaftlich gerne
in Buchhandlungen, nahm interessante Exemplare in die Hand und blätterte darin
herum. Nie und nimmer würde ich gedruckte Bücher "verraten", indem
ich sie auf diesem seelenlosen Gerät las…
Achtlos hatte
ich dieses samt Verpackung seitlich ins Wohnzimmerregal, genau zwischen meine
gedruckten Lieblingsromane geschoben, damit es gleich kapierte, wo ich meine
Prioritäten setzte!
Als Pauls und
mein gemeinsamer Sommerurlaub in Südfrankreich bevorstand, erinnerte ich mich
an das Teil. Wir waren beide absolute Sonnenfans und Strandurlauber und was tat
man einem Strand außer schwimmen zu gehen, ein Nickerchen zu halten und sich
einzucremen?
Genau: Lesen!
Bisher hatte ich bei jeder Flugreise zugunsten meiner prallgefüllten
Büchertasche auf einige Klamotten verzichten oder für Übergepäck zuzahlen
müssen. Jetzt hatte ich die theoretische Möglichkeit, mit weniger als
zweihundert Gramm Gepäck über tausend Bücher oder Zeitschriften mit mir zu
führen und ich erlag der Verlockung. Ganz zu schweigen davon, dass bisher so
mancher dicke Wälzer bei längerem Lesen im Liegen für Hand- oder Armkrämpfe
gesorgt hatte.
Seit diesem
Urlaub hatte ich meine Vorbehalte gegen elektronische Lesegeräte komplett
aufgegeben. Nach wie vor las ich aber ebenso gern gedruckte Exemplare. Vor
allem, wenn mir ein Buch wichtig war, mir gut gefiel und ich sicher war, es
mehrfach lesen zu wollen, kaufte ich die Druckausgabe.
Aber gestern
hatte ich mir auf Lisas Empfehlung hin ein lustiges ebook heruntergeladen mit
einer gefühlt tausendsten Variation davon, wie die Protagonistin gleich zu
Beginn entdeckt, dass ihr Freund es mit einer anderen treibt. Meist ist dieser
der Sohn ihres Chefs/selbst Chef oder Kollege an ihrem Arbeitsplatz, womit sie
nach der obligatorischen Schlussmachszene auch noch arbeitslos wird. Sie zieht
in die weite Welt hinaus, macht ihr eigenes Ding und lernt ziemlich bald Mr.
Right kennen, den sie natürlich nicht sofort als solchen identifiziert. Nach
seitenlangem Herumgezicke, bei dem man ihr als Leser für ihre Dämlichkeit gern
einen oder mehrere Tritte in den Allerwertesten geben möchte, lösen sich dann
alle Missverständnisse auf und einer Heirat steht nichts mehr im Weg.
Zur
Entspannung nach einem harten Arbeitstag war das genau die passende Lektüre:
Man folgte mit Anteilnahme, trügerischen Überlegenheitsgefühlen - weil man sich
selbst nie so blöd benehmen würde - manchmal auch Schadenfreude, den Irrwegen
der handelnden Personen, freute sich über die Aufklärung sämtlicher
Missverständnisse und war am Ende bei der obligatorischen Traumhochzeit zu
Tränen gerührt.
Ich amüsierte
mich gerade über die herrlich trocken-ironische Beschreibung, wie der Freund
der Hauptdarstellerin in voller Fahrt mit seiner Fremdgehtussi von ihr erwischt
wird, als es an meiner Wohnungstür Sturm klingelte.
Paul konnte
es nicht sein, der hatte sich erst für morgen angekündigt. Außerdem passte
Sturmklingeln nicht zu meinem Freund. Der war nur in anderen Dingen stürmisch.
Mürrisch über
die unwillkommene Störung meines gemütlichen Abends schlurfte ich auf meinen
warmen, grellroten Antirutschwollsocken zur Wohnungstür. Gleich darauf öffnete
ich sie einladend weit, weil ich durch den Türspion Lisa erwartungsvoll
lächelnd davorstehen sah. Den Mann hinter ihr erblickte ich erst zwei Sekunden
später. Lisa sagte irgendwelche Worte, die wie durch eine dicke Schicht Watte
an mein Ohr drangen, ohne dass ich deren Sinn erfasste. Ich starrte das
Prachtexemplar hinter ihr hemmungs- und fassungslos an. Dieser Typ entsprach in
keiner Weise Lisas üblichem Beuteschema, welches man grob mit "Smarter, mittelgroßer,
glattrasierter junger Schönling" umschreiben konnte.
Der Kerl, der
da vor meiner Wohnungstür stand, war ein Mann im wahrsten Sinne des Wortes. Ein
breitschultriger Hüne im
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