So unselig schön
Persönlichkeitsstörung und einer gesunden Psyche liegt ein weites Feld von psychischen Auffälligkeiten, die aber kein Krankheitsbild im Sinne einer klinischen Diagnostik darstellen«, dozierte Boos. »Aus diesem Bereich kommen die meisten Serientäter. Fast alle leiden an einer Persönlichkeitsstörung. Das prägnanteste Merkmal ist das Fehlen jeglicher Empathie, die Unfähigkeit, sich in das Opfer hineinzuversetzen. Andernfalls würde der Großteil der Taten in der Planungsphase aufgegeben.«
»Das ist ja gut und schön«, sagte Alois. »Aber geht es vielleicht etwas konkreter?«
»Wir werden das Material sichten und ein Profil erstellen. Was ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann: Der Täter ist umsichtig, ein Planer, erfahrungsgemäß zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt. Er ist stark, vermutlich gut trainiert und ziemlich sicher berufstätig, da beide Taten am Wochenende, also außerhalb regulärer Arbeitszeiten begangen wurden. Er hat in den vergangenen sechs Jahren dazugelernt. Die Enthauptung von Nadine ist ihm deutlich besser gelungen als die von Svenja. Vielleicht wird er gemobbt, vielleicht lebt er aber auch in einer problematischen Beziehung, die von finanzieller oder emotionaler Abhängigkeit geprägt ist. Möglicherweise ist er wegen anderer Delikte vorbestraft. Das müssen nicht unbedingt Gewalttaten sein, es können auch Eigentumsdelikte sein.«
»Was ist mit dem Blut?«, fragte Gina. »Wofür braucht er es? Gehört er vielleicht einer Sekte an?«
»Welche Bedeutung es für ihn hat …« Boos zuckte mit den Schultern. »Da ist viel denkbar. An einen pseudoreligiösen Kontext glaube ich nicht. In diesem Fall wären mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere rituelle Gegenstände bei den Leichen gefunden worden.«
»Sechs Jahre liegen zwischen erster und zweiter Tat. Das ist ein langer Zeitraum. Wie schafft er es, sich zu kontrollieren?«, fragte Dühnfort.
Boos legte die Stirn in Falten. »Da gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Vielleicht war die erste Tat ein Versuch, der schiefging und daher abschreckend wirkte. Vielleicht sind es aber auch ganz profane Ursachen wie ein Gefängnisaufenthalt. Oder eine geglückte Beziehung, aus der er Sicherheit und Selbstwertgefühl bezogen hat und die nun gescheitert ist oder im Scheitern begriffen. Möglich wäre auch, dass er im außereuropäischen Ausland gelebt und dort gemordet hat. Wir sind schon dabei, nach Referenzfällen zu suchen.«
Lichtenberg, dachte Dühnfort wieder.
»Bruno«, sagte Gina. »Wir sollten ihn schnellstens aufstöbern. Schon was aus Düsseldorf gehört?«
»Susanne hat eine Mail geschickt. Sie sind dabei, seine ehemaligen Nachbarn zu befragen, sich in seinem Heimatdorf umzuhören und der alten Bankverbindung nachzuspüren. Irgendjemand wird wissen, wo er jetzt lebt.«
Als die Besprechung beendet war, erhob Dühnfort sich und gab Gina mit einem Zeichen zu verstehen, dass er sie noch sprechen wollte. Alois und Alexander Boos verabschiedeten sich und verließen den Raum. Sie blieb neben der Tür stehen, an die Wand gelehnt wie gestern Nacht.
»Setzen wir uns?«
Ginas Miene veränderte sich nicht. »Mach es kurz und schmerzlos. Dann habe ich es hinter mir.«
Da sie sich nicht setzen wollte, wusste er einen Moment lang nicht, wohin mit sich. Er lehnte sich an die Tischkante. »Ich mache mir Sorgen. Das ist alles. Dir scheint die Distanz zu fehlen, du lässt den Fall zu nah an dich heran.«
»Trotzdem mache ich meinen Job wie immer. Oder hast du was auszusetzen?«
»Natürlich nicht. Ich frage mich bloß, weshalb du so emotional reagierst. Das ist sonst nicht deine Art.«
»Hast du doch gerade gehört: Man nennt das Empathie, wenn man sich in einen anderen einfühlen kann …« Gina schien noch etwas sagen zu wollen, schloss dann aber den Mund und sah ihn an.
Und plötzlich hatte Dühnfort das Gefühl, dass es nicht um die Fälle ging, sondern um ihn, um die ungesagten Worte, die eine Mauer zwischen ihnen errichteten. Eine Mauer, die täglich wuchs, bis sie eines Tages zu einem unüberwindlichen Hindernis würde. Eine Last legte sich auf seine Schultern und drückte ihn nieder. Er wich Ginas Blick aus, wandte sich ab, wusste nicht, was er sagen sollte, wusste nur, dass jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Ort waren, das anzusprechen. »Also gut«, sagte er und fühlte sich schuldig, schäbig, feige. »Dann war es das schon.« Kurz, aber nicht schmerzlos.
Als er wieder aufsah, verließ Gina bereits den Raum. Die
Weitere Kostenlose Bücher