So unselig schön
Vorgehen beim ersten Mord? Die Spuren der ersten Tat wiesen auf Aggression, ungezügelte Gefühle, unmittelbare Gewalt hin, die der zweiten auf kühle Überlegung.
Dühnforts Augen brannten, der Nacken war verspannt, der Mund trocken, alle Glieder schmerzten. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war Zeit, Schluss zu machen und ein wenig zu schlafen. Er legte den Aktenordner beiseite, der die Aussagen von Svenjas Kolleginnen und die von Bruno Lichtenberg enthielt, und überlegte, ob er mit Tatjana Krukow sprechen sollte. Sie war diejenige, die beobachtet hatte, wie Svenja von einem Mann aus einem schwarzen Auto heraus angesprochen worden war. Möglicherweise am Tag ihres Verschwindens. Aber was erwartete er nach sechs Jahren? Weshalb sollte sie sich heute besser erinnern können als damals? Es wäre ein sinnloses Unterfangen.
Kurz nach Mitternacht. Seit zwanzig Stunden war er auf den Beinen. Er ging zum Fenster, öffnete es und ließ etwas von der lauen Sommernachtsluft herein. Lieber würde er am See sitzen und bei einer Flasche Wein in den sternenklaren Himmel blicken, als sich durch die Folgen dieser Taten zu wühlen, die nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnten.
Bilder zogen durch seinen Kopf, wie ein Bach, der durch unterirdische Höhlen fließt, dunkel, unheimlich, nur ahnbar. Nadines erstaunter Blick, Svenjas skelettierter Schädel, ein Stern am Fußknöchel, das dunkle Haar. Dunkler Haare Massen, dachte er wieder. Woher kam diese Formulierung? Weshalb spukte sie in seinem Kopf herum? Er sollte ihr nachgehen. Aber nicht heute.
Er griff nach seiner Jacke, schloss das Fenster und blickte hinunter auf die Löwengrube vor dem Dom, der von starken Strahlern beleuchtet wurde.
Eng umschlungen ging ein Pärchen über den Platz. Es blieb stehen und löste sich voneinander. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sein Kopf näherte sich ihrem, bis beide scheinbar zu einem wurden, sich Arme um Schultern und Taille schlangen, sich die Trennung zwischen den Körpern aufhob.
Dühnfort dachte an Schokoladenaugen. Welche Kraft zog ihn plötzlich zu Gina hin? Weshalb zögerte er, auf Agnes’ Signal einzugehen? Zog er die Sicherheit des Alleinseins dem Abenteuer einer möglicherweise wieder scheiternden Beziehung vor? War er einfach nur feige und machte sich außerdem mit seinem Traum von Familie etwas vor? Nein. Das nicht.
Weißt du, ich habe noch was vor. So richtig spießige Sachen wie den Mann fürs Leben finden, heiraten, Kinder kriegen. Letzten Herbst, als Gina mit Tumorverdacht im Krankenhaus gewesen war, hatte sie das zu ihm gesagt. Agnes wollte keine Kinder. Gina wäre vielleicht die Richtige. Dühnfort zuckte bei diesem berechnenden Gedanken zusammen, atmete durch und glaubte plötzlich die Wärme eines Körpers hinter sich zu spüren. Er wandte sich nicht um, genoss einen Moment lang diese Vorstellung und verbot sie sich sofort wieder.
Die Domuhr schlug einmal. Viertel nach zwölf. Zeit zu gehen. Er kehrte dem Fenster den Rücken zu.
Gina stand neben der Tür und beobachtete ihn. Dühnfort erschrak. Wie lange stand sie schon da?
Einige Sekunden sahen sie sich an, der Augenblick dehnte sich. Diese Augen, als wüssten sie alles. Darin bin ich ja nicht sonderlich erfolgreich. Hatte sie ihn gemeint? »Zeit, Feierabend zu machen.« Seine Worte zerschnitten die Stille, erklangen überlaut in seinen Ohren und setzten Gina in Bewegung.
Sie löste sich von der Wand. »Genau. Ich wollte nur sagen, dass ich mich für heute vom Acker mache. Ciao, Tino.«
F REITAG , 11. J UNI
Noch fünf Minuten bis zum Meeting mit Alexander Boos. Dühnfort betrat den noch leeren Besprechungsraum. Der erste Koffeinschub des Tages war, nach nur viereinhalb Stunden Schlaf, in seiner Wirkung bereits verpufft. Dühnfort fühlte sich bleiern und verlangsamt, während tief in ihm eine Unruhe floss wie ein schwacher elektrischer Strom: die Angst, der Täter würde wieder zuschlagen, die Angst, ihnen bliebe nicht mehr viel Zeit. Woher kam die Sorge, der Täter könnte schneller sein als sie?
Gina trat ein, sah sich um, zögerte einen Moment und setzte sich.
»Guten Morgen, Gina.«
»Tag, Boss.«
Täuschte er sich oder hatte das frostig geklungen? Sie wich seinem Blick aus, zog die Unterlippe unter die Schneidezähne und begann in ihren Unterlagen zu blättern. »Mit Nico Hähnel treffe ich mich nach dem Meeting. Die Liste von Siersch, wem er die Brauerei als Location angeboten hat, liegt vor. Da ist kein Name
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