So unselig schön
Sie hob die Liste hoch. »Gleich der erste wusste, wo Bruno abgeblieben war. Serge Buthler heißt er, wohnt in Hamburg und betreibt dort ein Auktionshaus. Nebenbei restauriert er Gemälde.«
Inzwischen hatte sich der Himmel weiter verfinstert. Gina schaltete das Licht an und schien auf eine Reaktion von ihm zu warten. Als die nicht kam, ging sie zur Tür. »Ich mache mich mal vom Acker, bevor das Unwetter losbricht. Oder willst du noch heute mit Bruno reden?«
Dühnfort schüttelte den Kopf. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
Die Tür schloss sich hinter ihr.
Auch er machte sich auf den Heimweg. Der Himmel hing tiefschwarz über den Straßen, in den Läden brannten die Lichter. Noch immer rührte sich kein Lüftchen. Der Marienplatz leerte sich. In Erwartung des Unwetters verliefen sich die Menschen in Geschäften, Restaurants, Kaufhäusern sowie dem S- und U-Bahnhof. Auf dem Viktualienmarkt kaufte Dühnfort ein Schweinekotelett, Schnittlauch, Kresse und ein Baguette. Er hörte eine alte Frau zu ihrem Enkel sagen: »Glei schimpft a, da Himmipapa«, und sah, wie sie mit fuchtelnder Hand nach oben wies, als erwarte sie, ein Gottesgericht würde jeden Augenblick über München hereinbrechen.
Auf dem Heimweg entschloss Dühnfort sich zu einem kleinen Abstecher über den Alten Südfriedhof und betrat ihn am Eingang des Stephansplatzes.
Die Luft stand zwischen Bäumen und Gräbern, warm und schwer vom Duft nach Gräsern, Vergissmeinnicht und Efeu. Es herrschte eine seltene Stille, die jeden seiner auf dem Kies knirschenden Schritte überlaut erscheinen ließ. Ein marmorner Engel schmiegte sich an das Grab eines Kindes, das schon über hundert Jahre hier ruhte; länger, als sein Leben gewährt hatte. Hinter einem Grabstein kam ein Eichhörnchen hervor, huschte über den Weg und verschwand im Geäst eines Strauches.
Dühnfort fragte sich, warum er sich Gina gegenüber so unkollegial verhielt. Sie hatte Lichtenberg ausfindig gemacht und dafür auf Lob und Anerkennung gehofft, er hingegen hatte sie ins Leere laufen lassen. Eine derartige Behandlung hatte sie nicht verdient.
Er mochte sie. Sie waren Freunde, und seit einigen Tagen kämpfte er gegen den unsinnigen Wunsch an, mehr für sie zu sein, den Wunsch, sie zu berühren, diesen Apfelduft zu schmecken und die Weichheit ihres Körpers an seinem zu fühlen. Vielleicht war sie die Frau, die er lieben und mit der er Kinder haben könnte. Trotzdem sträubte sich etwas in ihm, einen Schritt in diese Richtung zu tun. Die Angst, alles kaputtzumachen, und die Sorge, sie zu verletzen, falls er doch … Agnes. Sollte er sie wirklich anrufen? Er bewunderte ihre Stärke und Unabhängigkeit in einem ähnlichen Maß, wie er sie fürchtete. Agnes brauchte ihn nicht. Sie hatten wenig gemein und keine gemeinsamen Träume und Ziele. Dühnfort ließ die angespannten Schultern sinken. Er grübelte wieder einmal zu viel. Ein Quäntchen von Ginas Leichtigkeit und von Agnes’ Gewissheit könnten mir nicht schaden. Bei diesem Gedanken musste er lächeln.
Am Ausgang zur Pestalozzistraße verließ er den Friedhof, erreichte das Haus, in dem er wohnte, stieg hinauf zu seiner Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
In den Räumen roch es muffig. Er stellte die Einkäufe ab, öffnete alle Fenster und entkorkte eine Flasche Rosé. Dann schenkte er ein Glas voll und trank es auf dem Balkon. Noch immer stand die Luft, als hätte die Natur den Atem angehalten. Ab und an klatschte ein warmer Tropfen auf den Tisch, seinen Arm, sein Gesicht.
Er ging hinein, schaltete das Licht an und legte eine Norah-Jones- CD in den Player. Es war die Musik, die er Agnes geschenkt hatte. Nightingale sing us a song. Er schenkte Wein nach und begann zu kochen. Zuerst briet er das Kotelett und stellte es warm. Dann schnitt er eine Zwiebel in Streifen, dünstete sie im Bratfett sowie etwas Butter glasig, rührte einen Teelöffel Zucker und einen großen Klecks Dijonsenf darunter, schwitzte alles kurz durch und löschte es mit einem Spritzer Wein ab. Anschließend vollendete er die Soße mit Crème fraîche, Salz und Pfeffer, Schnittlauch und einem Büschel Kresse und gab das Ganze über das Kotelett. Sein Abendessen war fertig. Edel-Fast-Food nannte Agnes seine Art zu kochen. Does it seem like I’m looking for an answer to a question I can’t ask. Er brach ein Stück vom Baguette. Das Glas war leer. Dühnfort fühlte sich leichter, ein wenig angetrunken. Trotzdem schenkte er nochmals nach, parkte das Glas neben dem
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