So unselig schön
ich mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. Auf einmal empfand er diese Worte als Last.
»Was machen wir, wenn er sich nicht meldet und stattdessen verschwindet?«
»Dann schreiben wir ihn zur Fahndung aus.« Dühnfort steckte das Handy wieder ein.
Auf dem Rückweg berichtete Gina, dass es ihr gelungen war, von Nico Hähnel die Gründe für seine Psychotherapie und deren Abbruch zu erfahren. Sein Bruder war vor Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Hähnel war nicht damit fertig geworden, tatenlos mitansehen zu müssen, wie die Krankheit fortschritt einem Ende entgegen, das ihm den Bruder nehmen würde. Irgendwann erkannte er, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als das zu akzeptieren. »Er fand es sinnvoller, die Zeit nicht weiter für eine Therapie zu verschwenden, sondern sie mit seinem Bruder zu verbringen«, erklärte Gina. Während sie sprach, eroberte sie sich mit jedem Satz ein Stück ihrer burschikosen Art zurück. »Nico können wir ad acta legen«, sagte sie schließlich und fügte hinzu: »Und meine Bemerkung von gestern Abend auch. Ja? Vergiss sie einfach. Lass uns weiter Freunde sein, auch wenn das angeblich laut eines gewissen Harry nicht funktionieren soll.«
Dühnfort erinnerte sich an den Film Harry und Sally, der sich um das Thema drehte, dass Männer und Frauen nicht einfach nur Freunde sein können.
Mit den letzten Worten erschien das altbekannte freche Grinsen auf Ginas Gesicht, die Nase zog sich in krause Falten, die Augen blitzten schelmisch.
Dühnfort fühlte sich erleichtert. »Weißt du, dass ich dich manchmal um deine Unkompliziertheit beneide? Woher nimmst du sie nur?«
»Überlebensstrategie?«
Überrascht sah er zu ihr hinüber. Für einen Sekundenbruchteil verschwand das Funkeln in ihren Augen.
»Vermutlich liegt es am Blut. Ich hab zu viel davon, bin durch und durch sanguinisch, während bei dir ja wohl die schwarze Galle kurz vorm Überschwappen ist.«
Sie hielt ihn für einen Melancholiker. Weshalb traf ihn diese Einschätzung? Sie entsprach doch der Wahrheit. Er war zu nachdenklich, zu grüblerisch, manchmal auch zu traurig, wünschte sich ihre Leichtigkeit. Was hatte sie mit Überlebensstrategie gemeint? Tat sie sich als Frau in diesem noch immer von Männern dominierten Beruf schwerer, als er dachte?
Er erreichte das Autobahnende und fuhr durch den nun dichter gewordenen Verkehr zurück zum Präsidium.
Kurz nach zehn Uhr saß er wieder an seinem Schreibtisch und vertiefte sich in Akten. Bis Mittag meldete Lichtenberg sich nicht. Dühnfort rief nochmals an, hinterließ eine weitere Nachricht. Um halb eins schlüpfte er in den Trenchcoat und machte sich auf zu Marcellos Espressobar. Samstag. Shoppingzeit. Das kleine Lokal war überfüllt. Es roch nach Kaffee und feuchten Mänteln. Tüten raschelten, Tassen klapperten, Stimmen schwirrten. Er ergatterte einen Platz am Tresen. »Ciao, Tino«, grüßte Marcello. »Das Übliche? Espresso multikulti und Tramezzino mit was?« Es war halb Feststellung, halb Frage.
»Mortadella.« Dühnfort öffnete den Mantel, griff nach der Zeitung und legte sie gleich wieder weg. Es war eine alte, die von Mittwoch. Auf der Titelseite prangte das retuschierte Foto von Nadine. Der in die Ferne gerichtete Blick. Das Letzte, was sie gesehen hatte, war ihr Mörder gewesen.
Der Schmetterling fiel ihm wieder ein. Er war ihm nicht weiter nachgegangen. Aber wo sollte er ansetzen?
Marcello reichte das Tramezzino über den Tresen und kurz darauf den Espresso sowie eine Schale mit Dark Muscovado Sugar. Dühnfort rührte zwei Löffel davon hinein und trank den Kaffee in kleinen Schlucken.
In der Kunst galten Schmetterlinge als Zeichen der Unsterblichkeit und der Wiedergeburt, wahlweise als Seele der Toten, je nach Kulturkreis. Dühnfort stellte die Tasse ab. Der Schmetterling war ein Symbol. Sicher nicht das einzige, das sich in Kunst und Literatur finden ließ. Etwas wollte an die Oberfläche. Was? Eine Eidechse tauchte aus Dühnforts Erinnerungen auf. Sie saß am Fuß einer Kristallvase. Wo hatte er das gesehen?
Auf einem Gemälde bei Fuhrmann.
Dühnfort aß das Tramezzino, zahlte und ging. Auf dem Rückweg ins Büro machte er einen Umweg durch die Residenzstraße und suchte die Buchhandlung Werner auf. Eine Viertelstunde später verließ er sie mit dem Standardwerk Die Natur und ihre Symbole .
In der folgenden Stunde vertiefte er sich in diese Lektüre. Zum Schmetterling fand er nichts Neues. Eine Eidechse konnte sowohl für Glauben als
Weitere Kostenlose Bücher