So unselig schön
andere Gedanken bringen. Er ist sehr ehrgeizig und spielt fabelhaft. Wenn ich ihm ordentlich Dampf mache, kann er für ein paar Stunden seine Sorgen vergessen. Und wenn ich sogar gewinne, dann wird René bis morgen an seiner Niederlage kauen, sein Spiel analysieren, überlegen, was er besser machen kann, und nicht dran denken, dass seine Frau mit ihrem Lover in einem Luxushotel die Laken zerwühlt.«
Uups. So eine Beziehungsscheißkiste. Vielleicht sollte der Mann mal mit seiner Frau reden, anstatt sich abzureagieren, indem er auf Bälle eindrosch. Na, besser auf Bälle als auf die Frau. »Klingt nach einem guten Plan«, sagte Vicki.
Der Kellner kehrte mit einer Karaffe Wasser zurück, schenkte die Gläser voll, fragte, ob er etwas empfehlen dürfe, und erklärte dann die Gerichte der Tageskarte. Vicki sah auf die Preise. Ein Hauptgericht kostete so viel wie ihre Monatsfahrkarte. Aber Wernegg konnte es sich leisten. Kein Grund, bescheiden zu sein.
Sie entschied sich für ein halbes Dutzend Austern, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich um huîtres plates und nicht um belons handelte. Die schmeckten nicht so wunderbar nach Meer wie die Sorte aus der Nordbretagne. Wobei das natürlich jeder anders sah. Als Hauptgericht wählte sie Entenbrust mit Ingwer-Honig-Soße. »Ob ich ein Dessert nehme, verrate ich Ihnen später.«
»Ich schließe mich schon wieder an«, sagte Wernegg und breitete in einer entschuldigenden Geste die Hände aus. Nachdem der Kellner die Bestellung notiert hatte, entschwand er Richtung Küche.
»Zu den Austern hätte ich gerne ein Glas Sancerre«, rief Vicki ihm nach. Er stoppte und wandte sich um. Schadenfroh bemerkte sie, wie der Kellner rot anlief. Ein solcher Fehler war ihr nie passiert. Auch wenn ein Gast Wasser anstatt eines Aperitifs bestellte, hieß das noch lange nicht, dass er keinen Wein zum Essen nahm.
Bevor er wieder Und der Herr? fragen konnte, hob Wernegg zwei Finger der rechten Hand. »Zwei Gläser.«
Der Kellner notierte und verschwand.
Wernegg musterte sie lächelnd. »Sie sind ein sehr erstaunliches Wesen.«
»Ach? Weshalb? Weil ich weiß, dass es mehr als eine Sorte Austern gibt?«
»Das auch. Sie scheinen ein wandelnder Widerspruch zu sein. Aber vielleicht zeigen Sie mir auch nur, welche Vorurteile ich mit mir herumtrage.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel hätte ich bei Ihrem Musikgeschmack eher auf Pop getippt als auf Klassik und bei der Kunst vielleicht auf Neo Rauch, Pipilotti Rist, Basquiat, sicher nicht auf antike Skulpturen. Und als ich Ihnen die Wahl des Restaurants überlassen habe, hatte ich einen Moment die Befürchtung, heute bei McDonald’s essen zu müssen. Stattdessen bevorzugen Sie französische Küche, bestellen als Aperitif aber nur Leitungswasser und sind dafür bei den Austern umso wählerischer.«
»Das kommt einfach daher, dass ich einige Monate in Paris in einem kleinen Restaurant bedient habe, im Chez Phillip . Da habe ich wie die Made im Speck gelebt. Der Koch meinte, ich sei zu dünn, und hat mich rausgefüttert.«
Der Kellner brachte den Wein. Die Gläser waren beschlagen. Kurz darauf servierte er die Platte mit Austern, die auf zerstoßenem Eis zwischen Zitronenspalten angerichtet waren, stellte Butter und Baguette daneben und wünschte guten Appetit.
Sie stießen mit dem Wein an und machten sich über die Austern her. Während Vicki den Meeresgeschmack jeder einzelnen Muschel genoss und dazu Wein trank, erzählte sie von der Rue Tardieu. Diese lag in dem Viertel, in dem der Film Die fabelhafte Welt der Amelie gedreht worden war und das seither – neben der Sacré Cœur – eine weitere touristische Attraktion zu bieten hatte: den Gemüseladen Au Marché de la Butte, in dem einige Szenen des Films spielen. Ehe Vicki sich versah, erzählte sie auch von Adrian, dem deutschen Austauschstudenten, der sein Budget durch Führungen für deutsche Touristen aufgebessert hatte und der eines Abends im Chez Phillip aufgetaucht war.
Vicki stoppte ihren Erzählfluss. Das ging Wernegg nichts an. Adrian war auch am nächsten Tag gekommen und am darauffolgenden und immer wieder. Meistens saß er am selben Platz, bestellte ein preiswertes Gericht und las in einem Buch, in dem er mit Bleistift Notizen machte. Ab und an sah er auf, beobachtete sie, lächelte. Bis dann eines Abends einer ihrer Gäste aufstand und ging, ohne bezahlt zu haben. Vicki bemerkte es erst, als bereits die Tür hinter ihm zuschlug. Schimpfend lief sie ihm hinterher.
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