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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Doch er war schneller und verschwand in der Menge von Touristen, die sich an diesem Sommerabend zwischen Sacré Cœur und der Metrostation Anvers durch die Straßen schob. So ein verfluchter Mistkerl! Zornig kehrte sie ins Restaurant zurück. Dort sah sie, wie Adrian Phillip, dem Wirt, einen Zettel gab und sich dann lächelnd an sie wandte. »Warte einen Augenblick auf mich, liebe Empörung. Lass sehen, wer du bist und worum es sich handelt.«
    Was war denn das für ein scheiß Klugscheißer! »Die Empörung lädt man nicht ein. Die reißt einfach die Tür auf und ist da«, fauchte sie ihn an.
    Er legte das Buch, das er in der Hand hielt, auf die Theke. »Es ist deine Tür. Sperr sie zu.«
    »Ärgern wird man sich ja wohl noch dürfen.«
    »Dein Wutanfall ändert nichts an der Situation. Der Kerl ist weg. Aber deine Empörung hindert dich daran, sinnvoll vorzugehen. Außerdem kostet sie dich jede Menge Kraft. Hinterher fühlst du dich mies und ausgelaugt.«
    »Studierst du Psychologie oder was?« Er hatte recht. Als die Wut langsam nachließ, begann sie sich müde und leer zu fühlen.
    »Der Spruch stammt von Epiktet, einem Stoiker. Ich studiere Philosophie.«
    »Und dein Epiktet meint, ich hätte mich besser auf einen Stuhl setzen, tief durchatmen und zehnmal Ommm stöhnen sollen?«
    »Nein. Er meint, dass du stattdessen überlegen solltest, was du sinnvollerweise tun kannst.«
    »Zum Beispiel?«
    »Die Polizei rufen. Eine Personenbeschreibung abgeben. Oder mal nachsehen, was der Mann hat liegen lassen.«
    »Nämlich?«, fragte Vicki, plötzlich hellwach.
    »Er hat während des Essens telefoniert und etwas auf einem Zettel notiert. Den hat er vergessen.«
    Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer, und zwei Tage später war damit der Zechpreller ausfindig gemacht.
    So hatte es zwischen ihr und Adrian begonnen. Er war der erste Mensch in ihrem Leben gewesen, der die magischen Worte zu ihr gesagt hatte. Zunächst die kleinen: Ich habe dich lieb! Da hatte sie geweint und nicht gewusst, warum. Später die großen. Da hatte sie bereits gewusst, dass er zu ihr gehörte, dass er ihr Gegenstück war.
    Fünf Wochen und zwei Tage.
    Dann war alles aus gewesen.
    Die Erinnerung daran schnürte ihr die Kehle zu. Sie legte die Gabel weg, griff nach dem Glas. Wernegg beobachtete sie mit besorgter Miene. Wie lange hatte sie schweigend vor sich hin gestarrt?
    »Dieser Adrian? Sie haben ihn geliebt?«
    Vicki war noch immer ganz in der Vergangenheit. Sie nickte.
    »Aber irgendetwas ist passiert?«
    Wie kam er dazu, eine solche Frage zu stellen! Schon wieder! Verdammt noch mal! So ein Arsch!
    Vicki presste die Kiefer aufeinander. Diesmal würde sie ihm die Knochen hinschmeißen, und dann würde er sich vor Scham über seine Neugier und Distanzlosigkeit winden.
    Sie sah ihm ins Gesicht und stellte irritiert fest, dass es schöne Züge darin gab. Irgendwie zart und verletzlich. »Adrian ist über einen Kinderroller gestolpert. Was ja an und für sich nicht schlimm gewesen wäre. Wenn der Junge mit dem Roller nicht an der Bahnsteigkante gestanden hätte und die Metro nicht genau in diesem Moment eingefahren wäre. Er war sofort tot. Das habe ich noch gesehen, bevor ich aus den Latschen gekippt bin.« Ich könnte ihn noch fragen, ob ich ihm die Leiche beschreiben soll, dachte Vicki wütend, drängte jedoch die Erinnerung daran zurück.
    Sie sah ihm in die Augen, trotzig, wütend und verletzt. Diesem Blick hielt er nicht stand. Ha! »Entschuldigen Sie. Ich wusste nicht … ich hätte nicht fragen dürfen.«
    »Und was gibt Ihnen meine Antwort nun? Neugier befriedigt? Können Sie sich jetzt wieder toll fühlen? Was geht es Ihnen doch gut, während es anderen beschissen geht …«
    »Es tut mir leid. Bitte …«
    »… mir geht es aber nicht beschissen.« Während sie sprach, fuchtelte sie mit der Austerngabel herum, die sie wieder aufgenommen hatte. Touché!
    Er griff nach ihrer Hand, stoppte so die Gabelattacke und ihren Redefluss. »Sie besitzen eine erstaunliche Menschenkenntnis«, sagte er. »Ich fürchte, Sie haben ins Schwarze getroffen.«
    »Wie?«
    »Dieses Sichvergewissern, dass es einem gutgeht, indem man sich mit anderen vergleicht. Vermutlich ist das eine weitverbreitete menschliche Schwäche. Dennoch ist sie erbärmlich. Meine Frage war taktlos und indiskret. Es tut mir leid. Glauben Sie mir das?«
    Sie nickte.
    »Verzeihen Sie mir auch?«
    Sie entzog ihm ihre Hand und legte die Gabel an den Tellerrand. »Sie haben aber nun mal

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