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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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wegen der Mann im Haus .«
    Verwundert sah er sie an.
    Vicki zuckte die Schultern. »Das steht schließlich im Lebenslauf auf deiner Website. Die habe ich mir natürlich angesehen, bevor ich dich um das Geld für die Kids gebeten habe.« Sie leerte das Champagnerglas. Gut, war seine Mutter also doch keine Heilige gewesen. Wobei alleine zu Hause zu sein ja nicht wirklich schlimm war. Sie war oft alleine in der Wohnung gewesen. Man musste nur spielen oder sich Geschichten ausdenken. Schöne Geschichten. Dann ging das.
    »Du hast vorher von einem Alptraum gesprochen. Ist das meine Schuld? Hoffentlich nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass du dich an etwas Schönes erinnerst.«
    Vicki stellte das leere Glas ab. Der Traum war nicht das eigentlich Schlimme. Den konnte sie abschütteln, vergessen, der war nicht echt. Aber die Erinnerungen, die waren echt, und im Grunde war sie froh gewesen, das alles vergessen zu haben.
    »Ist nicht so schlimm«, sagte sie und versuchte zu lächeln, während gleichzeitig eine Flut von Bildern durch ihren Kopf zu ziehen begann. Sie wollte das nicht. Ihre Hand machte eine unkontrollierte Bewegung, als wollte sie die Bilder verjagen, und stieß gegen das Glas.
    Jobst fing es gerade noch auf. »Ist es doch.« Forschend sah er sie an, stellte das Glas zurück auf den Tisch und wartete, ob dieser Blick sie zum Reden brachte.
    Na gut! Mal sehen, wie viel Wahrheit seine Idealvorstellung von Kindheit vertrug. Unverwandt sah sie ihm in die Augen. »Ich war dabei, als meine Mutter starb. Das heißt, als sie gestorben ist, da habe ich geschlafen. Ich habe sie am nächsten Morgen gefunden. Ich war sechs. So wie du, als dein Vater starb.« Ihre Stimme klang kühl und trocken, als habe sie sich von ihr gelöst. »Sie lag auf dem Holzboden. In ihrer Kotze. Zuerst habe ich gedacht, sie schläft, und wollte sie wecken. Aber sie war ganz steif. Da habe ich irgendwie gewusst, dass sie tot ist. Das Schlimme war nicht, dass wir in einer einsamen Berghütte saßen, und auch nicht, dass wir nichts zu essen oder zu trinken hatten … Auf solche Dinge hat sie nie geachtet … Es gab einen Bach … und in der Hütte habe ich Knäckebrot und eine Dose mit Rosinen gefunden …« Sie hielt ihn mit ihrem Blick gefangen. »Das Schlimme war auch nicht, dass ich den Weg ins Tal nicht kannte und mir erst nach Tagen die Idee kam, ich müsste nur bergab gehen, um unter Menschen zu kommen … ich war ja nie zuvor in den Bergen gewesen …«
    Was gab ihm das Recht, solche Fragen zu stellen? Woher nahm er den Glauben an das Schöne? Sie hatte Blumen gepflückt und sie ihrer Mutter ins Haar gesteckt. Nachts hatte sie neben ihr gesessen und gehofft, dass sie nur schliefe, wie Schneewittchen, und irgendwann aufwachte.
    »Das Schlimme war auch nicht, dass meine Mutter sich in diesen Tagen veränderte … wie das halt so ist … es war Sommer … ein heißer Sommer … sie blähte sich auf … stank … verfärbte sich.« Nein, ich lass dich nicht los. Du wolltest es wissen, und jetzt hörst du dir das an. Du, von deiner Mutter Ewiggeliebter. »Zuerst waren da nur ein paar wenige Fliegen … ich habe sie weggescheucht … habe die Kotze aufgewischt, weil ich dachte, daher käme der Gestank … aber es waren bald schon schwarze Schwärme … überall waren sie … dieses Surren … auch das war nicht das Schlimmste …«
    Sein Blick löste sich von ihrem! Ha! Hielt er es nicht mehr aus! Er griff nach ihrer Hand.
    Sie riss sie weg. »Verdammt, du hast es wieder gemacht! Gleichst dich an mir ab! Und jetzt hörst du mir zu«, fauchte sie ihn an. »Das Schlimmste war …«
    Vicki konnte nicht. Es war so lächerlich im Vergleich zu all dem anderen und trotzdem unaussprechlich. Warum? Weil die Worte es endgültig machen würden, wie ein Zeichen, für jeden sichtbar. Die Wut stürzte in sich zusammen, wurde zu einem Blatt, das ein Sturm mit sich gerissen hatte und das nun, nachdem dieser sich ausgetobt hatte, ins Trudeln geriet, langsam zu Boden sank und liegen blieb. »Egal.« Vicki wollte nur noch weg, schob den Stuhl zurück, stand auf, holte den Rucksack vom Sofa.
    Als sie dabei war, das Zimmer zu verlassen, stellte sich Jobst ihr in den Weg. »Ich weiß, was das Schlimmste war.«
    Überrascht sah sie ihn an.
    »Aber man muss es nicht sagen. Das ist nicht wichtig. Man muss es zeigen, den anderen fühlen lassen, und das hat sie sicher getan. Irgendwo gibt es etwas, an das du dich halten kannst. Und selbst wenn nicht …« Er nahm sie in

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