So wahr uns Gott helfe
»Nur der Hunger. Du weißt ja, wie ich mich aufführe, wenn ich nichts im Magen habe.«
»Ach so, schon klar.«
Tatsache war, ich hatte überhaupt keinen Hunger. Mir war ganz und gar nicht nach essen zumute. Ich spürte eine drückende Last auf mir – die Verantwortung für die Zukunft eines Menschen.
Und dabei hatte ich nicht die Zukunft meines Mandanten im Sinn.
FÜNFUNDDREISSIG
U m drei Uhr nachmittags am zweiten Tag der Geschworenenauswahl hatten Golantz und ich uns mehr als zehn Verhandlungsstunden mit unbegründeten und begründeten Ablehnungen beharkt. Es war ein regelrechtes Gemetzel gewesen. Wir hatten die bevorzugten Geschworenen des anderen ausgemacht, sie ohne Skrupel von der Liste gestrichen und uns auf diese Weise in aller Ruhe gegenseitig dezimiert. Wir hatten die Auswahlprozedur fast hinter uns, und meine Geschworenenaufstellung auf dem Umschlag war in manchen Feldern mit bis zu fünf Schichten Haftnotizen bepflastert. Ich hatte noch zwei unbegründete Ablehnungen übrig. Golantz, der zuerst sparsamer damit umgegangen war, hatte zunächst aufgeholt, mich dann sogar überholt und war inzwischen bei seiner letzten Unbegründeten angelangt. Stunde null war angebrochen. In Kürze wäre die Jury komplett.
In ihrer gegenwärtigen Besetzung gehörten ihr ein Anwalt, ein Programmierer, zwei neue Postangestellte, drei neue Rentner sowie ein Krankenpfleger, ein Gärtner und eine Künstlerin an.
Von den zwölf Kandidaten, die am Morgen zuvor als Erste aufgerufen worden waren, waren noch zwei übrig. Der Techniker auf Platz sieben und ein Rentner auf Platz zwölf hatten sich irgendwie halten können. Beide waren Weiße, und beide standen meiner Einschätzung nach eher auf Seiten der Anklage. Sie hielten damit zwar hinter dem Busch, aber ich hatte mir auf meiner Tabelle über beide in blauer Tinte Notizen gemacht. Das war mein Kode für Geschworene, die der Verteidigung gegenüber eher ablehnend eingestellt waren. Die beiden tendierten allerdings so schwach in die falsche Richtung, dass ich noch für keinen eine meiner kostbaren Ablehnungsmöglichkeiten geopfert hatte.
Ich konnte die beiden notfalls im letzten Durchgang ablehnen, denn beim voir dire bleibt immer ein Restrisiko. Man streicht einen Geschworenen wegen blauer Tinte, und dann ist der Ersatz polarblau und für den Mandanten eine noch viel größere Gefahr. Das machte die Auswahl der Geschworenen zu einer so unberechenbaren Angelegenheit.
Der letzte Neuzugang auf der Geschworenenbank war die Künstlerin, die den frei gewordenen Sitz Nummer elf einnahm, nachdem Golantz mit seiner neunzehnten Unbegründeten einen Müllmann abgelehnt hatte, den ich mir als roten Geschworenen vorgemerkt hatte. Im Zuge der Befragung seitens Richter Stantons stellte sich heraus, dass die Künstlerin in Malibu wohnte und ein Atelier nicht weit vom Pacific Coast Highway besaß. Sie arbeitete vorwiegend mit Acrylfarben und hatte am Art Institute of Philadelphia studiert, bevor sie wegen des Lichts nach Kalifornien gekommen war. Sie erklärte, sie besitze weder einen Fernseher noch lese sie regelmäßig Zeitung. Daher wisse sie nichts über die Morde, die sich sechs Monate zuvor in dem Strandhaus nicht weit von ihrem Wohn- und Arbeitsort ereignet hatten.
Fast von Anfang an hatte ich mir Notizen in Rot über sie gemacht und sah sie mit jeder Frage mehr auf meiner Geschworenenliste. Ich wusste, dass Golantz ein taktischer Fehler unterlaufen war. Er hatte eine Ablehnungsmöglichkeit geopfert, um den Müllmann zu kippen, und hatte dafür eine Geschworene bekommen, die seiner Sache noch abträglicher schien. Jetzt musste er mit seinem Fehler leben oder die Künstlerin mit seiner letzten Ablehnungsmöglichkeit streichen und noch einmal das gleiche Risiko eingehen.
Als der Richter seine Befragung beendet hatte, kamen die Anwälte an die Reihe. Golantz machte den Anfang und stellte mehrere Fragen, von denen er sich erhoffte, sie würden eine Voreingenommenheit der Künstlerin offenlegen, damit er sie dann mit einer Begründung ablehnen konnte. Doch die Frau schlug sich wacker und machte einen sehr unbestechlichen und objektiven Eindruck.
Bei der vierten Frage des Anklägers spürte ich ein Vibrieren in meiner Hosentasche und holte mein Handy heraus. Ich hielt es so zwischen meinen Beinen und unter dem Tisch der Verteidigung, dass es der Richter nicht sehen konnte. Julie Favreau hatte mir bereits den ganzen Tag über Textnachrichten geschickt.
FAVREAU: Unbedingt
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