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So wahr uns Gott helfe

So wahr uns Gott helfe

Titel: So wahr uns Gott helfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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nicht hören, in welchem Tonfall ein Kandidat eine Frage beantwortet. Und er kann seine Augen nicht sehen, wenn er lügt.
    Das Ganze läuft folgendermaßen ab: Der Richter hat eine computergenerierte Liste vorliegen und ruft die ersten zwölf Namen auf die Geschworenenbank. Zu diesem Zeitpunkt gehört noch jeder dieser zwölf Kandidaten potenziell der Jury an. Allerdings behält er seinen Sitz nur, wenn er die Vorauswahl übersteht, in der er zu seiner Vorgeschichte, seinen politischen Ansichten und seinen Rechtsvorstellungen befragt wird. Der ganze Vorgang folgt einem festen Schema. Zunächst stellt der Richter dem jeweiligen Kandidaten eine Reihe grundsätzlicher Fragen, anschließend erhalten die Anwälte beider Seiten Gelegenheit, gezielter nachzuhaken.
    Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Kandidaten aus der Jury zu entfernen. Er kann unter Nennung eines bestimmten Grundes abgelehnt werden, zum Beispiel, wenn aus seinen Antworten, seinem Verhalten oder seinen Lebensumständen hervorgeht, dass er nicht objektiv urteilen oder der Verhandlung unvoreingenommen folgen wird. Die Anwälte können unter Nennung eines bestimmten Grundes beliebig viele Kandidaten ablehnen. Häufig entfernt bereits der Richter einen Geschworenen unter Nennung eines Grundes, bevor der Ankläger oder der Strafverteidiger dazu kommt, Einspruch gegen ihn zu erheben. Wenn man es darauf anlegt, von der Geschworenenliste gestrichen zu werden, muss man nur angeben, dass man entweder der Überzeugung ist, dass alle Polizisten lügen oder dass alle Polizisten immer Recht haben. In beiden Fällen ist Voreingenommenheit ein todsicherer Ablehnungsgrund.
    Die zweite Möglichkeit, einen Geschworenen abzuwählen, sind die unbegründeten Ablehnungen, von denen jedem Anwalt je nach Art des Falls und der Anklagepunkte eine begrenzte Anzahl zur Verfügung stehen. Bei einem Mordprozess können Anklage und Verteidigung jeweils zwanzig unbegründete Ablehnungen aussprechen. Um sie möglichst effektiv und sinnvoll zu nutzen, sind Fingerspitzengefühl und taktisches Gespür vonnöten. Ein geschickter Anwalt kann die Jury mithilfe seiner Ablehnungen zu seinem Werkzeug schmieden. Eine unbegründete Ablehnung ermöglicht es ihm, einen Geschworenen aus keinem anderen Grund als einer instinktiven Abneigung zu streichen. Einzige Ausnahme bildet dabei der zu offensichtliche und einseitige Einsatz von unbegründeten Ablehnungen. Ein Staatsanwalt, der ständig schwarze Geschworene ablehnt, oder ein Strafverteidiger, der dies bei weißen Geschworenen versucht, zieht sich rasch den Unmut der Gegenseite und des Richters zu.
    Die Regeln dieses Auswahlverfahrens, des sogenannten voir dire, sollen das Zustandekommen einer voreingenommenen und parteiischen Jury verhindern. Der Begriff kommt von der französischen Redewendung die Wahrheit sagen. Aber das läuft natürlich den Interessen beider Seiten zuwider. Selbstverständlich wünsche ich mir in jedem Prozess eine voreingenommene Jury. Voreingenommen gegen Staat und Polizei. Und grundsätzlich positiv eingestellt gegenüber meinem Mandanten. In Wahrheit möchte ich keine einzige unparteiische Person in meiner Jury sitzen haben. Sie sollen alle bereits auf meiner Seite stehen oder leicht dorthin gezogen werden können. Ich hätte am liebsten zwölf Lemminge auf der Geschworenenbank. Geschworene, die mir blind folgen und als Agenten der Verteidigung auftreten.
    Logischerweise hatte es der Mann am Tisch der Anklage nur wenige Meter neben mir bei der Auswahl der Geschworenen auf ein diametral entgegengesetztes Ergebnis abgesehen. Der Staatsanwalt wollte seine eigenen Lemminge und würde seine Ablehnungsmöglichkeiten dazu verwenden, die Jury nach seinen Vorstellungen und zu meinem Nachteil zu formen.
    Bereits um Viertel nach zehn hatte der tüchtige Richter Stanton den Computerausdruck durchgesehen und die ersten zwölf nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kandidaten auf die Geschworenenbank gerufen, indem er die Nummern verlas, die ihnen in der Geschworenenstelle im vierten Stock zugeteilt worden waren. Es waren sechs Männer und sechs Frauen. Drei Postangestellte, zwei Techniker, eine Hausfrau aus Pomona, ein arbeitsloser Drehbuchautor, zwei Highschool-Lehrer und drei Rentner.
    Wohnsitz und Beruf waren von allen bekannt, ihre Namen nicht. Sie blieben anonym. Bereits im Vorfeld des Prozesses hatte der Richter die Geschworenen bei sämtlichen Besprechungen vor jeder öffentlichen Aufmerksamkeit und Begutachtung geschützt. Er hatte

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