So wahr uns Gott helfe
nachzudenken Edgar Reese in den nächsten fünf Jahren hinreichend Gelegenheit hätte.
Ich steckte die Akte in meinen Trolley zurück und sah nach, was als Nächstes auf dem Stapel lag. Es war die Akte von Patrick Henson, dem Schmerzmittelfall, den ich möglichst loswerden wollte. Ich beugte mich schon vor, um die Akte in die Tasche zurückzuschieben, richtete mich dann aber unvermittelt wieder auf und behielt sie auf meinem Schoß. Ich schlug damit ein paar Mal auf meinen Oberschenkel, während ich erneut über die Sache nachdachte, dann öffnete ich den Ordner.
Henson war ein vierundzwanzigjähriger Surfer aus Malibu, der ursprünglich aus Florida stammte. Er war Profi gewesen, aber einer, der sich mit den spärlichen Prämien und Gewinnen gerade so hatte über Wasser halten können. Dann war er bei einem Wettbewerb auf Maui bei einem Wipe-out von der Welle auf den Lavagrund von Pehei geschmettert worden und hatte sich dabei die Schulter so stark gequetscht, dass sie operativ ausgeschabt werden musste. Nach dem Eingriff hatten ihm die Ärzte gegen die Schmerzen Oxycodone verschrieben, und achtzehn Monate später war Henson süchtig nach dem Mittel. Seine Sponsoren sprangen ab, und er war körperlich nicht mehr fit genug, um weiter an Wettbewerben teilzunehmen. Vollends auf die schiefe Bahn geriet er, als er aus dem Haus einer Freundin in Malibu ein Diamantcollier stahl. Dem Bericht des Sheriff’s Department zufolge gehörte das Collier der Mutter seiner Freundin und enthielt acht Diamanten, die für ihre drei Kinder und fünf Enkel standen. Sein Wert wurde auf fünfundzwanzigtausend Dollar beziffert, aber Henson verhökerte es für vierhundert und fuhr dann nach Mexiko, um sich dort ganz regulär zweihundert Tabletten Oxy zu kaufen.
Der Diebstahl war Henson einfach nachzuweisen. Das Diamantcollier wurde im Leihhaus konfisziert, und auf dem Überwachungsvideo war zu sehen, wie Henson es verpfändete. Infolge des hohen Werts des Colliers bekam er voll sein Fett ab – Handel mit gestohlener Ware und schwerer Diebstahl in Verbindung mit illegalem Drogenbesitz. Als nicht gerade förderlich erwies es sich dabei auch, dass die Dame, der er das Collier gestohlen hatte, mit einem Arzt verheiratet war, der nicht nur über gute Beziehungen verfügte, sondern auch großzügig für die Wiederwahl mehrerer Bezirkspolitiker gespendet hatte.
Als Vincent den Surfer als Klienten annahm, zahlte ihm dieser die fünftausend Dollar Vorschuss gewissermaßen in Naturalien. Vincent nahm die zwölf Henson-Boards in Zahlung, lauter Sonderanfertigungen, und ließ sie von seinem Insolvenzverwalter an Sammler verkaufen oder auf eBay versteigern. Darüber hinaus hätte Henson monatlich tausend Dollar an Vincent zahlen sollen, von denen dieser jedoch keinen Cent zu sehen bekam, weil Henson einen Tag nachdem seine in Melbourne, Florida, lebende Mutter die Kaution für ihn gestellt hatte und er aus der Haft entlassen worden war, eine Entziehungskur begonnen hatte.
Der Akte zufolge hatte Henson den Entzug erfolgreich beendet und inzwischen in Santa Monica einen Teilzeitjob in einem Surfcamp für Jugendliche angenommen. Damit verdiente er kaum genug zum Leben, geschweige denn, um monatlich tausend Dollar an Vincent zu zahlen. Und auch die Mittel seiner Mutter waren erschöpft, nachdem sie die Kaution gestellt und die Kosten für den Entzug getragen hatte.
Die Akte war voll von Anträgen und sonstigen Einreichungen, bei denen es sich um Hinhaltemanöver Vincents handelte, der nur darauf wartete, dass Henson mehr Kohle herausrückte. Das war gängige Praxis. Man sah zu, dass man sein Geld im Voraus bekam, besonders dann, wenn der Fall aussichtslos war. Die Anklage hatte auf Video, wie Henson Diebesgut verkaufte. Und das bedeutete, Henson hatte mehr als schlechte Karten.
In der Henson-Akte stand eine Telefonnummer. Ein Punkt, den jeder Anwalt seinen nicht inhaftierten Mandanten einbläut, ist, dass sie jederzeit für ihn erreichbar sein müssen. Straftäter, die mit einer Anklageerhebung und einem daraus resultierenden Gefängnisaufenthalt rechnen müssen, neigen selten zu Sesshaftigkeit. Sie sind ständig auf Achse und manchmal ohne festen Wohnsitz. Aber es ist unerlässlich, dass ihr Anwalt sie kurzfristig erreichen kann. Die Telefonnummer in der Akte war Hensons Handynummer, und wenn sie noch stimmte, konnte ich ihn auf der Stelle anrufen. Die Frage war nur, wollte ich das?
Ich blickte hoch zur Richterbank. Die Richterin befand sich noch
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