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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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fleißig und verdienten mit vereinten Kräften genug, um sogar noch ein paar
tostões
für Marias spätere Mitgift zurückzulegen. Das heißt, zumindest Gertrudes sparte die wenigen Münzen, die sie in den Sommermonaten auf den Feldern verdiente – ihr Mann zog es vor, seinen Verdienst zu großen Teilen in den gierigen Schlund des Wirtes zu werfen.
    Demnächst gäbe es auch wieder mehr Fleisch zu essen. Wenn erst der Juni kam und mit ihm die arbeitsreichste Zeit des Jahres begann, wenn der Weizen gemäht und gedroschen wurde und die Korkeichen geschält wurden, dann hätten sie wieder Geld genug, um ein Schwein zu kaufen, es zu schlachten, zu pökeln und davon bis in den Herbst hinein zu zehren. Dann die Weinlese, anschließend die Olivenernte – ja, jetzt ging es wieder bergauf. Wenn nur Fernando den Verstand besäße, endlich von diesem Mädchen abzulassen!
    Gertrudes Abrantes wischte die nassen Hände an ihrer Schürze trocken. Sie band sich ein Kopftuch um und ging durch die Hintertür hinaus in den Garten, um die Wäsche von der Leine zu nehmen. Während sie prüfend die Laken betastete, in denen sie noch eine Spur Feuchtigkeit zu fühlen glaubte, betrachtete sie ihre Söhne. Sie hatten die Leiter ans Haus gelehnt. Fernando kniete auf dem Dach und löste vorsichtig einen zerbrochenen roten Ziegel. »Bestimmt vom Frost«, rief er seinem Bruder zu. Sebastião stand auf einer der mittleren Sprossen der Leiter, nickte und nahm die Scherben entgegen.
    Gertrudes wurde von Wehmut ergriffen. Richtige Männer waren sie schon, beide mit tiefen, wohltönenden Stimmen, stämmig der eine, von schlankerem Wuchs der andere. Beide hatten breite Schultern und muskulöse Gliedmaßen, und beide neigten, das sah man schon jetzt, zu dem gleichen Übermaß an Körperbehaarung wie ihr Mann. Dabei war es doch noch gar nicht lange her gewesen, dass sie die Jungen an ihrer Brust genährt und auf ihrem Schoß geschaukelt hatte, dass sie ihre Kindertränen fortgewischt und ihnen mit alten Märchen Respekt vor dem lieben Gott sowie den Geistern der Ahnen eingeflößt hatte, dass sie ihre weichen Bäuchlein gerieben und in ihre roten Bäckchen gekniffen hatte.
    Sebastião war als Kind unkompliziert und fröhlich gewesen, und daran hatte sich bis heute wenig geändert. Fernando dagegen erinnerte nur noch selten an den ständig lachenden kleinen Jungen von früher. Er war verschlossen und eigenbrötlerisch geworden. Es lag etwas in seinem Blick, das Gertrudes nicht verstand, ja, das ihr Angst einjagte. Doch genau darin lag das Geheimnis seiner Anziehungskraft. Sie mochte seine Mutter sein, aber sie war auch eine Frau, und sie erkannte durchaus, welche umwerfende Wirkung Fernando auf die Mädchen hatte.
    »Du Dummkopf!«, beschimpfte er jetzt seinen Bruder vom Dach herab.
    Sebastião betrachtete zerknirscht den neuen Dachziegel, der ihm heruntergefallen und dabei zerbrochen war.
    »Los, hau ab. Ich kann dich hier nicht länger gebrauchen. Allein komme ich besser zurecht.« Fernando kletterte geschmeidig von der Leiter. Er ging zu dem Haufen mit den Ziegeln, der an der Hauswand aufgeschichtet war. Dann schien ihm einzufallen, dass er irgendetwas aus dem Schuppen benötigte, ein Werkzeug vielleicht. Er drehte sich auf dem Absatz um 180 Grad und ging an der Hauswand entlang in Richtung Schuppen.
    Gertrudes sah es kommen und rief noch: »Halt!«
    Doch ihre Warnung kam zu spät. Fernando war bereits unter der Leiter hindurchgeschritten.
    Seine Mutter hob den Blick flehend zum Himmel: Bitte, Senhor, lass uns kein Unglück widerfahren! Doch darauf, dass der Herrgott sie erhören würde, schien Gertrudes nicht zu vertrauen. Als sie die klammen Betttücher von der Leine löste, zitterten ihre Hände.

3
    D as Schicksal lässt sich nicht beschummeln.
    Es mag sich eine Weile unsichtbar machen, aber nur, um dann mit doppelter Wucht zuzuschlagen. Es lauert immer hinter der Ecke, hinter der man es am wenigsten erwartet, und man darf es nie dadurch herausfordern, dass man seine Existenz ignoriert oder gar leugnet. Diese Lektion hatte Gertrudes Abrantes schon in jungen Jahren gelernt, und bis heute, da sie auf ihren 44 . Geburtstag zuging und zwei Enkelkinder hatte, ließ sie sich nicht in diesem Glauben beirren. Mochte ihr Leben derzeit in ruhigen Bahnen verlaufen, mochten ihre Söhne auch noch so erfolgreich, ihre Tochter ein Goldschatz und ihre Enkel die reinste Freude sein – Gertrudes wusste mit unerschütterlicher Sicherheit, dass irgendein

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