So weit der Wind uns trägt
Menschenkenntnis des Felipe Soares war weitaus größer als die von Fernando. Der Mann wusste, wann er es mit einem starken Charakter zu tun hatte. Und dieser Bursche – das war ihm viel klarer als dem Burschen selbst, der nie den Umgang mit Macht gelernt hatte – war eine geborene Führungspersönlichkeit. Ein kluger, ehrgeiziger Einzelgänger, der noch dazu über ein charismatisches Äußeres verfügte. Fernando musste das nur noch selber erkennen. Und das würde er. »Außerdem«, fuhr Felipe fort, »willst du auf ein Gehalt von 500 Réis im Monat verzichten?«
Fernando glaubte, sich verhört zu haben. Ein festes monatliches Einkommen war an sich schon nicht zu verachten – aber ein so hohes! Es war mehr als doppelt so viel, wie er in einem guten Erntemonat verdienen konnte.
»Ich, äh«, stotterte er, »fühle mich sehr geehrt, Senhor Felipe. Und ich will alles tun, um Ihr Vertrauen in mich zu, äh …« Ihm fehlte das richtige Wort.
Felipe grinste und reichte ihm die rechte Hand. »Auf gute Zusammenarbeit,
engenheiro
.«
Fernando schlug ein.
Ganz so einfach, wie der Verwalter geglaubt hatte, wurde es nicht. Fernando sah sich mit Problemen konfrontiert, die er nie für möglich gehalten hätte. So wenig Schwierigkeiten ihm ein defekter Pflug oder ein lahmendes Pferd bereiteten, so schwer tat er sich mit den Anfeindungen und Intrigen der Arbeiter. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, ihre kleinen Diebstähle vor ihm zu verheimlichen. Aus reiner Not hatte er selber früher Weizen gestohlen oder kleineres Wild in den Wäldern des Senhor Carvalho gejagt, und er hatte Verständnis für die Leute. Aber mussten sie es so offen tun? Sie brachten ihn absichtlich in einen Gewissenskonflikt. Abends, zurück in der
aldeia
, schnitten sie ihn. Er hatte nie viele Freunde besessen, aber jetzt hatten sich sogar Carlos und Zé von ihm abgewandt, so dass ihm nun nichts anderes übrig blieb, als sich erst recht seinen »Studien« und Experimenten zu widmen. Er baute für seine Mutter ein Gerät, in dem sie mit nur wenigen Drehungen an einer Kurbel ihre Wäsche waschen und schleudern konnte. Es funktionierte erstaunlich gut, wurde aber selten in Gebrauch genommen, da seine Mutter es für Teufelswerk hielt. Er bastelte kleine Modelle von Flugzeugen und fühlte sich so seinem Idol, dem kürzlich in seiner Wright verunglückten Flugpionier und Automobilbauer Charles Stewart Rolls, näher. Und er grübelte endlose Stunden über seine Zukunft nach.
War es wirklich realistisch, sich auf eine Braut zu kaprizieren, die sich ihm bereits entfremdete? Er bemerkte durchaus die kleinen Anzeichen dafür, dass ihre Erziehung und ihr Lebensstil, der dem seinen so wenig ähnelte, Jujú über die Jahre verwandelt hatte. Irgendwann wäre er ihr nicht mehr gut genug. Wofür quälte er sich eigentlich so, wenn sogar seine Familie von ihm Abstand nahm? Sein Bruder tat so, als kenne er ihn nicht, sein Vater sprach in der Wirtschaft abschätzig über ihn, seine Schwester hielt ihn für unchristlich. Nur seine Mutter liebte ihn bedingungslos, das wusste Fernando, auch wenn sie es angesichts der Umstände nicht zu zeigen wusste. Auf den Feldern war er ihr und allen Nachbarn vorgesetzt, und sie musste sich viele Klagen über Fernandos Herzlosigkeit anhören.
Am schwersten zu schaffen aber machten Fernando die Gemeinheiten des Schielauges. João, der einzige Sohn des Verwalters, sabotierte die von Fernando vorgeschlagenen und von Senhor Felipe für gut befundenen Modernisierungsmaßnahmen, wo er nur konnte. Er goss in böser Absicht Wein über die Rechnungsbücher, die im Verwalterhaus lagen, so dass Fernando erneut Zahlenkolonne um Zahlenkolonne eintragen musste. Er verabreichte den Rindern in den Stallungen, zu denen er ungehinderten Zutritt hatte, eine giftige Substanz, so dass die Tiere vor Schmerzen brüllten und einige von ihnen sogar verendeten. »Bedankt euch beim
engenheiro
«, erzählte João herum, »er wollte ja unbedingt, dass wir das neue Kraftfutter aus England ausprobieren. Da seht ihr, wo so etwas hinführt.«
Joãos Feindseligkeit ging so weit, dass er Fernando sogar zu erpressen versucht hatte. »Ich habe euch beobachtet, dich und die feine Dame vom
monte
. Es wäre lustig zu sehen, wie der Senhor darauf reagiert.«
»Noch lustiger wäre es zu sehen, wie Beatriz reagiert, wenn ich ihr erzähle, was du mit Deolinda treibst.«
Jujús ältere Schwester war noch immer nicht verheiratet, und ihre Chancen sanken mit
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