So weit der Wind uns trägt
eines unehelichen Kindes, es je hätte tun können, beschloss Laura, ihre Identität weiterhin geheim zu halten. Nicht einmal ihre Familie ahnte etwas. Nur Jakob hatte sie es geschrieben, und er hatte ihre »Strategie« bewundert, die im Grunde keine war.
Ach, Jakob … er fehlte ihr unendlich! Weder die paar Telefonate, die sie vom Fernmeldeamt aus geführt hatte, noch ihr reger Briefwechsel konnten ihr den Mann ersetzen, den sie liebte – und dem sie alles verdankte, was sie liebte, allen voran ihren Sohn und ihren Erfolg. Sie vermisste Jakobs Witz, sie verzehrte sich nach seinem Körper und nach seinen Küssen. Doch obwohl Laura wusste, dass die wiederholte Lektüre seiner Briefe ihre Pein nicht lindern, sondern nur verstärken würde, öffnete sie erneut die Schublade ihres Schreibtisches, in der sie die Korrespondenz aufbewahrte. Es war stärker als sie – sie
musste
den letzten Brief einfach noch einmal lesen, wohl wissend, dass er sie in tiefste Depressionen stürzen würde.
Santa Monica, L.A., 8 / 4 / 1943
Geliebte Laura,
alle Worte dieser Welt reichen nicht aus, meine Sehnsucht nach Dir zu beschreiben! Gestern hätte ich mich beinahe in ein Flugzeug gesetzt und wäre nach New York geflogen, um von dort ein Schiff nach Lissabon zu nehmen. In letzter Sekunde hat dann aber die Vernunft obsiegt, diese grässliche humor- und leidenschaftslose Stelle in meinem Hirn, wo auch der Buchhalter sowie der Oberlehrer in mir ihren Ursprung haben. Apropos New York: Meine Schwester hat sich mit einem strenggläubigen Schneider aus Brooklyn verlobt, ist das zu fassen? Sie kennt ihn gerade mal vier Wochen, ich weiß nicht, warum sie es so eilig hat mit dem Heiraten. Noch viel weniger verstehe ich, warum sie sich freiwillig mit einem Orthodoxen abgibt, sie wurde anders erzogen, und ich kann sie mir schlecht mit einer Perücke und einem Stall voller zerlumpter Kinder vorstellen. Vielleicht liegt es daran, dass sie nach einem Zuhause lechzt, wie wir es von früher kannten, nach einer Familie und nach Nestwärme. Von unseren Eltern haben wir jede Spur verloren, und die Nachrichten, die aus Deutschland zu uns dringen, rauben einem die letzte Hoffnung. Nein, das stimmt nicht – einen Funken Hoffnung bewahrt man sich immer, ganz gleich, wie aussichtslos eine Sache erscheint. So glaube ich auch weiterhin daran, dass wir zwei eines Tages wieder vereint sind, meine Schöne. Wenn der Krieg erst vorbei und Portugal für ein Genie wie LL zu klein geworden ist, dann wirst Du kommen. Bitte, lass mich hier nicht im Stich! Kannst Du Dir vorstellen, wie ich durch Los Angeles streife, einsam, entwurzelt, verzweifelt? Nun ja, so ganz stimmt auch das nicht: Ich habe unter den zahlreichen Emigranten, die es wie mich hierher verschlagen hat, ein paar Freunde gewonnen. Sogar eine Malerin ist darunter, Elsa Stern heißt sie, aber sie hat natürlich lange nicht so viel Talent wie Du. Wenigstens bringt sie mich zum Lachen, das ist doch schon etwas, denn eigentlich habe ich derzeit nicht viel zu lachen. Zu all meinen persönlichen Nöten und Problemen gesellt sich nun nämlich noch die Angst, demnächst meine Arbeit zu verlieren. Der Dirigent meines Orchesters hasst mich, warum auch immer, nichts kann ich ihm recht machen. In meiner Freizeit habe ich jetzt angefangen zu komponieren, wer weiß, vielleicht findet ja einer der Film-Tycoons Gefallen an meinen traurigen Stücken, in denen immer auch ein wenig Fado durchklingt. Und natürlich mein übergroßes, alles beherrschendes Verlangen nach Dir. Ich liebe Dich! Immer.
Dein Jacob
P. S. Jetzt, da Du zu etwas Geld gekommen bist, könntest Du Dir doch endlich einen Telefonanschluss legen lassen. Wie schön wäre es, Deine Stimme zu hören …
P. P. S. Kauf Aktien von Coca-Cola. Es ist ein scheußliches Getränk, eine dunkelbraune, überzuckerte Limonade mit leicht medizinischem Geschmack, aber hier sind alle ganz scharf darauf, weshalb sie es in Europa sicher auch bald sein werden.
Mit beiden Händen umklammerte Laura den Brief, als könne er sonst davonfliegen. Sie zitterte, und ihre Augen waren feucht geworden, wie immer, wenn sie ihn las. Und wie schon so oft zuvor zerpflückte sie das Geschriebene, Zeile für Zeile.
Jakob, oder besser Jacob mit »c«, wie er neuerdings unterschrieb, war auf dem besten Weg, ein richtiger Amerikaner zu werden. Beim Datum hatte er zuerst den Monat, dann den Tag genannt – denn vom 8 . April war der Brief definitiv nicht. Auch war sein
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