So weit der Wind uns trägt
von einem zarten Bleu, das später, wenn die Sonne erst ihre Kraft entfaltete, eine kräftigere Färbung annehmen würde. Der Douro selbst, wie auch die Nebenflüsse und kleineren Bäche, waren nicht zu sehen. Peu à peu würden sich im Laufe des Morgens einzelne Details aus dem Dunst hervorschälen, zaghaft und von oben nach unten: erst ein höherer Baum, dann der Schornstein eines Gebäudes und schließlich die Masten der
rabelo
-Barken, die heute mehr als Touristenattraktion denn als Transportmittel für die Portweinfässer dienten. Die Diva ließ sich Zeit mit ihrer Enthüllung, was ihren Reiz nur steigerte. Spätestens gegen elf Uhr hätte der Nebel sich gelichtet, die Landschaft böte sich nackt dem Auge des Betrachters dar. Doch dann würde sie sich wieder neue Raffinessen einfallen lassen, um ihn mit ihrem Zauber gefangen zu nehmen.
Nachts wurde es bereits empfindlich kühl, doch die frische Morgenluft war unvergleichlich. Sie war feucht und benetzte die Haut mit einem feinen Film. Sie duftete so intensiv nach Wasser, Schiefer und nach dem ersten Herbstlaub, dass es Rui da Costa fast den Atem verschlug. Er stand am geöffneten Schlafzimmerfenster und sog diese wunderbare Luft gierig ein. Er ließ den Blick über sein Land gleiten, über die Rebstöcke, denen er fast sein ganzes Leben gewidmet hatte und die jetzt, vorerst, verwaist und friedlich dalagen. Der Herbst, wenn die Weinlese vorbei war und der Rebschnitt noch nicht begonnen hatte, wenn die Gluthitze des Sommers zivilisierteren Temperaturen wich und wenn die Maische unter großem Gelächter in den Steinbottichen mit den blanken Füßen gestampft wurde, war immer seine liebste Jahreszeit gewesen. In diesem Jahr erschien ihm der Herbst noch schöner als sonst. Es würde ein Spitzenjahrgang werden. Er würde Höchstpreise erzielen. Und es war Rui völlig gleichgültig.
Der Grund, aus dem er so gut gelaunt am Fenster stand, zappelig vor Energie und Lebensfreude, hatte mit dem Portweingeschäft nichts zu tun. Rui war verliebt. Es hatte ihn erwischt, und zwar richtig. Niemals zuvor in seinem Leben war er einem anderen Menschen derart verfallen, wie es ihm jetzt passiert war. Es war ein erhebendes Gefühl, eines, das alles Gewesene und alle Zukunftspläne null und nichtig machte. Rui hatte eine Entscheidung getroffen. Sie würde seiner Familie nicht gefallen, aber was kümmerte es ihn? Hatten die ihn je gefragt, ob es ihm gefiel, was sie trieben? Jetzt war er an der Reihe. Er war fast siebzig, und er würde jede Sekunde, die ihm noch blieb, auskosten – ohne Rücksicht auf Verluste.
Was war er nur für ein Narr gewesen? Wie hatte ihm all die Jahre hindurch die öffentliche Meinung so wichtig sein können, dass er dafür auf sein privates Glück verzichtet hatte? Bis vor einem halben Jahr, als er dem Jungen begegnet war, hatte er sich doch allen Ernstes schon mit so unerquicklichen Dingen wie seiner eigenen Beerdigung beschäftigt. Der Arzt war fast täglich auf die Quinta gekommen, um sich an ihm und seiner Hypochondrie zu bereichern, doch den hatte er als Erstes geschasst. Was sollte der Quatsch? Er war alt, aber ihm fehlte überhaupt nichts, wenn man einmal von dem sich lichtenden Haupthaar absah. Die jahrzehntelange Körperertüchtigung und gewissenhafte Pflege seiner Gesundheit zahlten sich jetzt aus: Er war, was man gemeinhin unter einem rüstigen Rentner verstand, auch wenn er es weit von sich wies, ein Rentner zu sein.
Er hatte bis zur diesjährigen Lese gearbeitet wie ein Berserker, und für einen kurzen Augenblick bedauerte er es, dass er nun nicht mehr mit der Qualität der Tinta Roriz, für deren reinsortigen Ausbau er viel Spott geerntet hatte, würde auftrumpfen können. Egal. In Wahrheit hatte er genug von der Portwein-Wissenschaft. Wen interessierte es schon, ob ein Winzer sich für die Lyra- oder die Kordonerziehung einsetzte? War der Streit um die Vor- und Nachteile der Ausdünnung nicht rein akademischer Natur? Und welcher normale Mensch wusste schon, was er unter Edelreisern zu verstehen hatte? Na bitte. Über der Fachsimpelei hatten sie alle ganz vergessen, dass es einzig und allein darauf ankam, ob einem der Wein schmeckte. Und das wiederum hing in starkem Maße von der Genussfähigkeit eines Menschen ab, nicht aber von seinem Fachwissen. Sein Liebling hatte ihm das hinlänglich bewiesen, als er einen simplen Ruby mit größerem Vergnügen getrunken hatte, als er selber jemals bei der Verkostung seiner edelsten Colheita empfunden
Weitere Kostenlose Bücher