So weit der Wind uns trägt
Ihr Blick, als er im Speisezimmer aufgetaucht war, hatte ihm alles gesagt. Sie schämte sich seiner. Und in dem Blick, den die beiden Damen einander zugeworfen hatten, war alles Weitere abzulesen gewesen: Sie hatten irgendeinen Plan ausgeheckt, gegen dessen Umsetzung er allein, ohne Jujús Unterstützung, machtlos gewesen wäre.
Die Erinnerung an diesen Abend setzte ungeahnte Energien frei. Fernando klopfte, drückte und hämmerte in so fieberhafter Eile an dem dünnen Metall der Tragfläche herum, dass diese schon nach knapp 20 Minuten wieder ganz passabel aussah. Wenn der Rundflug, mit dem Ferreira seine Evelina zu beeindrucken suchte, turbulent würde, dann konnte es keinesfalls am Gerät liegen, sondern höchstens am Wetter. Er schaute zum Himmel auf. Dicke Kumuluswolken ballten sich dort. Ferreira musste sich beeilen. In wenigen Stunden würde ein Gewitter losbrechen. Wenigstens dafür, dachte Fernando, waren die an Sense und Hacke vergeudeten Jahre gut gewesen: Seine Wetterprognosen stimmten immer.
Am Morgen trommelte Regen auf die Fensterscheiben. Das Gewitter vom Vortag hatte sich nicht richtig ausgetobt. Es hatte weder einen klaren Himmel noch kühlere Luft hinterlassen, sondern alles in einen erstickenden Dampf gehüllt, der jetzt aus tiefgrauen Wolken wieder zur Erde herabfiel. Fernando setzte sich auf das knarrende Feldbett und erlaubte sich einen Moment des Nichtstuns. Der Landmann in ihm freute sich: Ein allzu heftiges Gewitter hätte der ohnehin schon verhagelten Ernte endgültig den Garaus machen können. Der angehende Pilot dagegen war enttäuscht: Heute früh hätte er wieder mit Ferreira zum Flugplatz fahren sollen.
Die Kammer war perfekt aufgeräumt, seine Uniform war tadellos in Schuss, und bis zum Frühstück hatte er noch ein paar Minuten Zeit. Sein Zimmergenosse war in der Krankenstation. Nichts und niemand störte ihn, als er die Fotografie hervorzog und sie andächtig betrachtete. Jujú blickte ihn aus aufgerissenen dunklen Augen an, die ihr Erschrecken widerspiegelten, als der Blitz ausgelöst worden war. Fernando lächelte in sich hinein. So kannte er sie gar nicht. Auch das glatt zurückgekämmte Haar war untypisch für sie. Aber wusste er eigentlich noch, wie sie wirklich war? Gelegentlich passierte es ihm, dass er sich mit geschlossenen Augen Jujús Züge vorzustellen versuchte und es ihm nicht gelang. Er hatte ihren vollen, ein wenig zu breit geratenen Mund vor Augen, er sah die kleine Nase, auf der sich, wenn sie unvorsichtig war, Sommersprossen bildeten, und er sah ihre braunen Augen mit den wundervoll geschwungenen Wimpern. Aber beim Zusammenfügen der Details zu einem Gesamtbild hatte er manchmal Schwierigkeiten. Es war, als entwischte ihm das Gesicht immer dann, wenn er kurz davor war, es als Ganzes einzufangen. Das war kein gutes Zeichen. Oder vielleicht doch? Bekäme es ihm nicht besser, wenn er Jujú, die Familie Carvalho, Belo Horizonte und überhaupt seine ganze unglückliche Vergangenheit einfach vergaß? Das war es doch eigentlich, was er sich an jenem Abend im September 1913 vorgenommen hatte.
Mit unumstößlicher Gewissheit hatte Fernando seinerzeit plötzlich gewusst, was zu tun war. Und wie alles in seinem Leben ging er auch diesen Plan mit großer Schnelligkeit und Effizienz an. Er meldete sich zum Militärdienst – dem er bislang als Familienoberhaupt immer hatte ausweichen können. Seine Mutter zog zu Sebastião, seine Schwester ging bei dem Pfarrer in Stellung. Beide nahmen die Veränderungen in ihrem Leben nur unter größtem Gejammer hin, und alle, ausnahmslos alle Leute in der
aldeia
und auf dem
monte
hielten ihn für übergeschnappt. Wie konnte er, dem eine so glänzende Zukunft bevorstand, der bereits in jungen Jahren so viel erreicht hatte, alles hinwerfen, um Soldat zu werden?! Er selber teilte diese Zweifel nicht. Was gab er schon auf? Eine Jugendliebe, die unter den ungünstigen Umständen zu zerbrechen drohte; das Zusammenleben mit zwei Frauen, die ihn nicht verstanden, um die er sich aber natürlich weiterhin finanziell kümmern würde, sobald sein Sold dies zuließ; und eine Position, die ihm auf viele Jahre ein vergleichsweise sorgenfreies Leben erlaubt hätte – aber nicht den geringsten Raum für Träume ließ.
Erste Zweifel waren ihm allerdings bereits bei der Musterung gekommen. Splitternackt hatte er sich mit anderen Männern in einer Reihe aufstellen müssen, und die Begutachtung durch den Arzt war so menschenverachtend, dass Fernando
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