So weit der Wind uns trägt
dieser Unmensch so lange weiterbohren würde, bis sie ihm sagte, mit wem sie gesprochen hatte. Sie brauchte eine kleine Denkpause. »Dürfte ich bitte einmal austreten?«
»Selbstverständlich.« Paulo lächelte sie an. »Nur noch nicht jetzt sofort.«
Paulo hatte nicht vor, der jungen Frau körperlichen Schaden zuzufügen. Genauso wenig beabsichtigte er, sie für längere Zeit in Gewahrsam zu nehmen. Sie kam aus einer sehr vermögenden und einflussreichen Familie, da täte er sich selber keinen Gefallen. Das Einzige, was er wollte, war, dass sein Neffe litt. Sobald Ricardo erführe, dass Marisa verhaftet worden war, würde das Gift zu wirken beginnen. Ricardo würde sich verrückt machen. Er würde nicht mehr ruhig schlafen können. Er würde die Wände hochgehen. Er würde ihn, den Onkel bei der DGS , anrufen, um ihn anzuflehen, er möge sich für die junge Frau einsetzen. Und er, Paulo, würde das Spiel mitspielen. Ricardo hatte nicht den geringsten Anlass zu der Vermutung, dass sein Onkel ihm oder seiner teuren Freundin etwas Böses antun wollte.
Drei Tage reichten. Dann wäre das Mädchen mit den Nerven am Ende und Ricardo dem Wahnsinn nahe. Die Phantasie der Leute war immer noch der grausamste Folterknecht. Seinen Untergebenen würde Paulo nach drei Tagen mitteilen, dass er zu der Überzeugung gelangt sei, Marisa Monteiro Cruz stecke nicht unter einer Decke mit diesem Soziologen- und Politologenpack, diesen verfilzten, drogensüchtigen, landesverräterischen Hunden namens Cristiano Nunes und José Sampaio. Mit denen konnten seine Mitarbeiter dann gerne nach Belieben verfahren, sobald sie sie der Verstrickung in verfassungswidrige, umstürzlerische Aktivitäten überführt hätten, was nicht allzu schwer sein dürfte. Die Frau sollten sie auf freien Fuß setzen.
Einen Augenblick überlegte Paulo, ob diesmal wirklich drei Tage reichen würden. Es bestand die Möglichkeit, dass, aufgrund des unregelmäßigen Kontaktes zwischen seinem Neffen und dieser Marisa, Ricardo nicht so schnell von ihrer Verhaftung erfuhr. Ach was. Er schüttelte den Kopf über seine Bedenken. Er war seit mehr als fünfundzwanzig Jahren dabei. Es hatte immer funktioniert. Drei Tage waren kurz genug, um ihn unangreifbar zu machen – falls die Angehörigen Einfluss hatten und ihn womöglich der Pflichtverletzung beschuldigen wollten, kamen sie damit nicht weit –, aber lang genug, damit das Gift sich schön ausbreiten konnte. Drei Tage hatten noch jeden zermürbt.
Ricardo hatte sich die Finger wund gewählt. Er hatte praktische Stunden sowie den wöchentlichen Theorieunterricht ausfallen lassen, um sich direkt in Lissabon mit Marisa auszusprechen. Aber nichts. Sie stellte sich tot. Hoffte er. Wenn ihr nur nichts passiert war! Als sie den Wagen erwähnt hatte und die Beschattung, die er angeblich durchführen ließ, hatte er sich vor lauter Ärger über diese Unterstellung gar nicht weiter mit dem Umstand beschäftigt, dass da wirklich jemand war, der sie beobachtete. Aber dieses Schweigen war doch sehr beunruhigend. War sie mit ihrem liberalen Demokratieverständnis womöglich der Polizei aufgefallen?
Er beschloss, in ihrer Firma zu fragen, ob sie da war. Nein, Menina Marisa sei seit zwei Tagen nicht zur Arbeit erschienen, hieß es, und falls er wüsste, wo sie sich aufhielte, könne er ihr gerne mitteilen, dass man die Stelle mit einer zuverlässigeren Kraft besetzen würde. Verflucht. Irgendetwas war ihr zugestoßen. Ricardo brachte die Telefonnummer ihrer Familie in Erfahrung – sie hatte ihm einmal erzählt, dass ihr Vater mit Vornamen Hermenegildo hieß, und gemeinsam hatten sie sich gekugelt vor Lachen. Jetzt war Ricardo froh, dass der Mann einen so ungewöhnlichen Namen und er selber ein so ausgezeichnetes Gedächtnis hatte. Er rief die Leute an, erfuhr dort jedoch ebenfalls nur, dass sie seit Tagen nichts von Marisa gehört hatten. Er hatte ihre Mutter an der Strippe, und die schien sich keine besonderen Gedanken zu machen. Wahrscheinlich hatte Marisa ihren Eltern mit ihren Eskapaden schon zu oft Kummer bereitet.
Im Anschluss an dieses unbefriedigende Telefonat stöberte er Cristiano auf, von dem er nur den Vornamen kannte und wusste, dass er eine Doktorarbeit in Soziologie schrieb. Aber diese Eckdaten reichten, um ihn in der Universität ausfindig zu machen. Der Doktorvater Cristianos war jedoch auch keine Hilfe: Nein, seit zwei Tagen habe er von Herrn Nunes nichts gehört und nichts gesehen, und das, obwohl sie
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