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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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furchtbaren Dinge ausmalte, die man ihr angetan hatte.
    Er musste ihr Zeit geben. Irgendwann wäre sie wieder bereit, sich auf intime Berührungen und Zärtlichkeiten einzulassen. Er konnte warten. Wie lange es auch dauern mochte.

55
    E inige Wochen später, an einem klaren Frühlingsmorgen des Jahres 1973 , erwachte Marisa ungewöhnlich früh. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, würde es aber, nach der violetten Färbung des Himmels zu urteilen, demnächst tun. Sie duschte schnell, zog den Rock vom Vortag sowie ein leichtes T-Shirt an, schlüpfte in ihre Jesussandalen, warf sich einen Pulli lose um die Schultern, schnappte sich ihre neue Nikon und verließ die Wohnung. Diese Tageszeit war zu schön, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie hatte so etwas Unschuldiges, Sauberes. Und sie war ideal zum Fotografieren. Das war ihr neuestes Hobby. Schwarzweiß natürlich. In dem Abstellkabuff hatte sie eine Dunkelkammer eingerichtet, in der sie selber ihre Filme entwickeln und die Abzüge machen konnte. Besonders gern belichtete sie derzeit das harte Fotopapier, ihr gefielen die scharfen Kontraste.
    Ihr Spaziergang durch das erwachende Lissabon war herrlich. Sie sollte öfter so früh aufstehen. Außer ihr waren noch nicht viele Menschen unterwegs. Ein Zeitungsauto deponierte die frisch gedruckten Stapel vor einem Kiosk. Der Duft frischer Brötchen drang aus einer Bäckerei. Sie lief Richtung Tejo und kam an einem Café vorbei, das schon geöffnet hatte. Anscheinend war es ein Treffpunkt von berufsmäßigen Frühaufstehern wie Busfahrern und Hafenarbeitern. Kaum eine Minute später hatte sie eine stark gezuckerte
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hinuntergestürzt und befand sich wieder auf ihrem Weg, der aufgehenden Sonne entgegen.
    Am Cais do Sodré verschoss sie drei Filme. Die ersten Sonnenstrahlen verliehen den Hafenfähren einen magischen Glanz, den sie im hellen Tageslicht nicht hatten. Über die gekräuselte Wasseroberfläche tanzten orangefarbene Funken. Über alldem lag der Duft des frühen Morgens, vermischt mit den Hafengerüchen. Ein paar Möwen kreisten über dem Anleger und stießen ihre traurigen Schreie aus. Es war ein zauberhaftes Spektakel, eines, das Marisa in Erinnerung rief, dass sie viel zu selten im Freien war, dass sie in ihrem Alltag zu wenig Himmel und zu viele Mauern sah.
    Es überkam sie plötzlich eine große Lust, auf der Stelle in den Alentejo zu fahren. Da gab es mehr als genug Himmel. Es war Samstag, sie musste nicht zur Arbeit. Es war so früh am Tag, dass die Straßen leer sein würden. Und verpassen würde sie hier in Lissabon auch wenig. Sie hatte sich nichts Nennenswertes vorgenommen, keine Verabredungen getroffen, die sie nicht auch absagen konnte. Und in Ruhe die Zeitung lesen, das konnte sie auch auf Belo Horizonte. Ricardo wollte sie allerdings um diese Uhrzeit noch nicht anrufen. Sollte sie ihn überraschen? Oft genug um einen Besuch gebeten hatte er sie ja – aber nach dieser merkwürdigen Nacht an seiner Seite, in der er so keusch und sie zu erschöpft gewesen war, um ihn zu ermutigen, hatte sie das für keine gute Idee gehalten. Irgendwie waren sie beide nicht kompatibel.
    Auf ihrem Weg zurück zu ihrer Wohnung wägte Marisa alle Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Es wäre schön, ihn wiederzusehen. Ein Ausflug aufs Land würde ihr guttun. Aber Ricardo würde arbeiten müssen – an Samstagen und bei schönem Wetter wäre er andauernd in der Luft. Und was sollte sie allein auf diesem gruseligen Landsitz? Schön, spazieren gehen. Fotos machen. Zeitung lesen. Sie kam zu keinem vernünftigen Entschluss und fand schließlich, sie könne es auch dem Zufall überlassen: Wenn die Autoschlüssel in ihrer Handtasche waren, würde sie direkt losfahren, ohne erst noch einmal hinauf in ihre Wohnung zu gehen, sich umzuziehen und sich von vermeintlichen Pflichten ablenken zu lassen. Hatte sie die Schlüssel nicht dabei, würde sie es bleiben lassen.
    Je näher sie ihrer Wohnung kam, desto mehr hoffte sie, dass die Schlüssel sich in ihrer Tasche befanden. Als sie endlich ihren Wagen erreichte, der in einer Seitenstraße geparkt war, zitterten ihre Hände, als sie in dem voluminösen Beutel herumkramte. Wie kindisch das war! Wenn sie die Schlüssel nicht dabeihatte, würde sie sie eben holen gehen. Doch dann ertastete sie das vertraute Ledermäppchen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie lächelte, als sie in ihr Auto stieg, und während der ganzen Fahrt gelang es ihr nicht, dieses blödsinnige Grinsen

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