Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
für gestern die Abgabe eines Exposés vereinbart hatten, das der Professor dringend benötigte.
    Schließlich fiel Ricardo nur noch eine einzige Person ein, die ihm vielleicht weiterhelfen konnte.
    Genau siebzig Stunden nach der Festnahme von Marisa Monteiro Cruz rief er bei seinem Onkel an.
     
    Marisa saß in ihrer schmucklosen Zelle und brütete vor sich hin. Was hatte sie sich zuschulden kommen lassen, dass die Geheimpolizei sie dafür verhaftete? Für den Gebrauch des Wortes »Freiheit« wurde man heutzutage doch nicht mehr bestraft. Oder doch? War es vielleicht schon ein Verbrechen, mit einem promovierenden Sozialwissenschaftler zusammenzuwohnen? Und warum holte sie niemand hier heraus? Wo blieb ihr Vater mit all seinen wichtigen Verbindungen, wenn sie ihn mal brauchte?
    Am schlimmsten war diese Ungewissheit. Nicht zu wissen, wessen man beschuldigt wurde. Nicht zu wissen, wann man freigelassen wurde. Nicht zu wissen, ob Freunde oder Verwandte ebenfalls verhaftet worden waren. Und nicht zu wissen, ob man nur vorübergehend in Frieden gelassen wurde und die Wärter sich nicht später doch noch an ihr vergreifen würden. Marisa dachte an all die üblen Geschichten, die sie gehört hatte, von Vergewaltigungen, von brutalen Verhören mit Elektroschocks, von verdreckten Zellen und gedemütigten Gefangenen. Ricardo hatte ihr mal von dem Lebensgefährten seiner Mutter erzählt, der nach einer Woche in den Fängen der PIDE nie wieder der Alte geworden war. Sie hatten seinen Willen gebrochen – nachdem sie dasselbe mit seinen Fingern, seinen Rippen und seiner Nase getan hatten.
    Ihre Zelle entsprach nicht den Gerüchten, die über die »Kerker« im Umlauf waren. Es handelte sich nicht um ein feuchtes, verschimmeltes Verlies, in dem man sich in seinen eigenen Exkrementen wälzte. Es waren keine Ketten an den Wänden befestigt, es gab keine Ratten, die den geschwächten Gefangenen die Zehen anknabberten, und es gab auch kein verfaultes Essen, das einem im Blechnapf unter der Tür durchgeschoben wurde. Vielmehr sah ihre Zelle genauso aus, wie es in irgendeiner Verordnung über die angemessene Unterbringung von Untersuchungshäftlingen vorgeschrieben sein mochte. Behördenmäßig. Fast schon enttäuschend korrekt. Es hätte sich um einen Abstellraum in einem Amt handeln können. Fensterlos und klein, aber sauber und keineswegs beängstigend. Blauer Linoleumboden, zweckmäßiges Metallbett. Das Essen war schlecht, aber nicht schlechter als das, was man auch in Krankenhäusern oder Kantinen bekam.
    Drei Tage hatte Marisa nun bereits in dieser schlichten Zelle geschmort. Von Stunde zu Stunde waren ihre Selbstvorwürfe bohrender und quälender geworden. Inzwischen war sie so weit, dass sie sich selbst mehr hasste als die Polizisten, die sie verhört und weggesperrt hatten. Was war sie nur für eine dumme Kuh gewesen! Wie hatte sie jemals auf die schwachsinnige Idee kommen können, Ricardo ließe sie beobachten? Meine Güte, wie Unrecht sie ihm getan hatte! Das würde sie niemals wiedergutmachen können, und wenn sie sich für den Rest ihrer Tage vor ihm auf die Knie warf und um Verzeihung winselte.
    Da tauchte endlich einer auf, der alles besaß, was sie sich von einem Mann erträumte, und sie stieß ihn von sich weg wie einen leprösen Bettler. Da warb mal einer um sie, wie es sich gehörte, und sie ließ ihn eiskalt auflaufen, als wäre er ein aufdringlicher Staubsaugervertreter. Was war nur mit ihr los? Warum konnte sie mit Typen, die ihr wenig bis gar nichts bedeuteten, fröhlich und ohne Hemmungen ins Bett gehen und sich ausgerechnet bei Ricardo, der aufregender war als alle Männer, die sie bisher gehabt hatte, so unnahbar geben? So spröde? Wie verdreht konnte man noch sein? Damals, im Alentejo, als sie sich »geliebt« hatten, war sie nicht sehr verliebt in ihn gewesen. Und in jüngerer Zeit, da ihre Gefühle gewachsen waren, hatte sie nicht mehr so locker-flockig mit ihm Liebe machen können. Herrje, das war doch schizophren!
    Mehr als alles in der Welt sehnte sie sich jetzt nach seinen Zärtlichkeiten – und wenn sie ihn dafür heiraten musste. Warum auch nicht? Sie war doch kein junges Mädchen mehr, das seine Eltern, die es schon einmal mit einer geplatzten Hochzeit herb enttäuscht hatte, zufriedenstellen musste. Und es musste ja keine Zeremonie in Weiß sein, in einer barocken Kirche, mit Kutschfahrt und hundert geladenen Gästen. Sie konnten sich standesamtlich trauen lassen. Sie konnten nach Las Vegas

Weitere Kostenlose Bücher