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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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wieder Belo Horizonte erreichte, waren ihr die Beine von der ungewohnten Anstrengung weich. Und ihr Magen knurrte schon wieder.
    Diesmal schnitt sie sich ein dickes Stück von der schweinischen Wurst ab und verzehrte es pur aus der Hand. Dann stapfte sie kauend hinüber zum Haupthaus. Solange es noch hell war, wollte sie sich dort genauer umsehen. Sie hatte das Gefühl, es müsse dort irgendetwas zu entdecken geben. Sie wünschte es sich. Wer träumte nicht davon, ein geheimes Versteck zu finden, in dem eine Schatzkarte lag oder etwas in der Art? Wenn es irgendwo solche Dinge aufzustöbern gab, dann in diesem Spukhaus, dessen war sich Marisa gewiss. Ein großes Meisterwerk der Renaissance, verborgen unter hundertjährigem Gerümpel auf dem Dachboden. Eine Originalausgabe der
Lusíadas
von Camões. Eine verschollen geglaubte Partitur von Haydn.
    Ihr Verstand sagte ihr, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Fundes gleich null war. Ihr Bauch aber kribbelte vor Entdeckerlust. Am liebsten hätte sie sich gleich den Dachboden vorgenommen, der am ergiebigsten zu sein versprach. Aber das wäre wie Sex ohne Vorspiel gewesen. Sie würde sich der Spannung berauben, die sich langsam aufbaute. Also zwang sie sich, zunächst in jedem Raum genauestens nachzusehen. Gab es geheime Mauernischen? Lose Bodendielen? Hohlräume, die als Versteck geeignet waren? Nein. Nichts. Sie war im Obergeschoss angelangt, hatte alle Zimmer inspiziert und bisher nur einen einzigen skurrilen Fund gemacht, nämlich ein selbst gebautes Modellflugzeug. Ricardo musste noch ein Kind gewesen sein, als er es gebastelt hatte. Die Vorstellung, wie ein kleiner Junge konzentriert an diesem Monstrum gefeilt hatte, rührte sie fast zu Tränen.
    Sie brauchte eine Weile, bis sie den Zugang zum Dachboden gefunden und geöffnet hatte. Doch was sie dann sah, entschädigte sie für die Mühe. Es war himmlisch! Das reinste Paradies für Hobby-Archäologen! Mit Kisten, Truhen, Schränken und losen Brocken zugestellt bis unter die roten Dachziegel, voll mit Spinnweben, die von den mächtigen Dachträgern hingen, und getränkt mit dem Duft von uraltem Staub entsprach dieser Speicher exakt dem Bild, das sie sich erhofft hatte. Er war sogar schon ein bisschen zu vollgestopft mit alten Sachen, denn man kam durch dieses Chaos kaum hindurch. Immerhin fiel durch die verdreckten Dachfensterchen genug Licht.
    Marisa erschrak beim Anblick eines Schädels, den irgendein Witzbold wohl genau zu diesem Zweck gleich in der Nähe der Luke aufgestellt hatte. Ach, wahrscheinlich nur von einem Affen, sagte sie sich und bahnte sich weiter ihren Weg durch die Berge von Schrott und Staub. Sie hob hier einen Deckel an und blickte da hinter eine Klappe, zog hier eine Schublade auf und lugte da in einen Karton. Manche Dinge sahen so aus, als lohnte sich ihre genauere Inspektion: eine Wäschetruhe etwa, in der vergilbte Nachthemden mit Spitzenkragen obenauf lagen, die noch aus monarchistischen Zeiten zu stammen schienen; eine Weinkiste, in der ein Bündel Briefe, ein verblasstes Foto mit gezackten Rändern und kleine Andenken lagen, wie sie nur junge Mädchen aufbewahren konnten; oder ein Schrank, in dem sich haufenweise Bücher befanden, die auseinanderzufallen drohten, wenn man sie in die Hand nahm. Von alten Meistern oder verschollenen Partituren allerdings keine Spur.
    »Marisa? Bist du da oben?«, hörte sie plötzlich Ricardos Stimme.
    »Ja.« Sie krabbelte aus der Ecke hervor, in der sie gerade gestöbert hatte. Durch die Bodenluke sah sie nach unten. »Das ist ja irre hier oben!«
    Ricardo sah sie entgeistert an. Dann prustete er laut los. »Du siehst auch ziemlich irre aus! Du solltest dich sehen – wie die böse Hexe in einem Gruselfilm. Deine Haare hängen voll mit Spinnweben.«
    Marisa fuhr sich mit ihren vor Staub geschwärzten Fingern durchs Haar und fing ein paar Fäden auf. »Bäh!« Sie wedelte mit ihren Händen, um die klebrigen, rauhen Fäden abzuschütteln. Vor lauter Begeisterung über diesen verwunschenen Dachboden hatte sie gar nicht gespürt, wie eklig es dort eigentlich war.
    »Warte mal kurz.« Sie holte ihr einzig transportables Fundstück, die Weinkiste, und reichte sie Ricardo nach unten. »Die will ich mir später mal genauer ansehen.« Und fügte nach einer Sekunde mit dem Balkan-Akzent einer wahrsagenden Zigeunerin hinzu: »Große Tragödien und dramatische Schicksale werden sich uns enthüllen.«
    Dann kletterte sie die Treppe hinab – bis sie einige Stufen

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