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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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an. Sie würden sich, dachte Jujú, keine fünf Sekunden lang mit der Frage beschäftigen, warum eine Dame im Regen an der Haltestelle stand und dann nicht einstieg. Die
lisboetas
, die Lissabonner, waren dafür bekannt, dass sie sich wenig für andere Leute interessierten. Dennoch fühlte Jujú sich unbehaglich. Wenige Minuten später kam die nächste Tram herangerattert. Erneut sahen die Passagiere sie neugierig an. Diesmal senkte Jujú nicht den Kopf, sondern glotzte ebenso unverschämt zurück.
    Gerade als die Bahn abfuhr, fiel ihr Blick auf ein Paar unverwechselbar grüner Augen, das sie ungläubig anstarrte. Fernando stand im hinteren Teil des Waggons, hielt sich an einer Messingstange fest und drehte sich herum, um Jujú aus dem rückwärtigen Fenster so lange nachzusehen, bis die Tram um eine Kurve fuhr. Er wirkte wie jemand, der eine Erscheinung gehabt hatte und seinen eigenen Sinneswahrnehmungen nicht traute. Dass er in seiner Uniform seltsam fehl am Platz wirkte, verstärkte den unwirklichen Eindruck noch, den die ganze Szene auf Jujú machte.
    Sie war wie versteinert. Warum hatte sie ihm nicht zugewinkt? Dann hätte er wenigstens die Gewissheit gehabt, dass es sich wirklich um sie handelte und nicht um irgendeine Doppelgängerin. Sie hatte es vermasselt! Noch dazu hatte er sie in einer Situation gesehen, die ihm höchst sonderbar vorkommen musste. Jujú kaute auf ihrer Unterlippe herum und überlegte, wie sie jetzt vorgehen sollte. Ihr Pulsschlag normalisierte sich allmählich wieder. Einen weiteren »Zufall« würde sie so bald nicht inszenieren können. Und Fernando eine Notiz zukommen lassen? Bei jedem anderen Menschen wäre es ihr völlig natürlich erschienen, nach einer solchen Begegnung einen kurzen Brief zu schreiben.
Liebe Clarice, was für eine Überraschung, dich in Lissabon zu wissen! Hättest du Lust, dich mit mir auf einen Café zu treffen? Wir haben uns nach all den Jahren sicher viel zu erzählen.
Und so weiter, mit herzlichen Grüßen. Aber Fernando konnte sie unmöglich auf diese Weise kontaktieren. Sie konnte nur darauf hoffen, dass umgekehrt er sich mit ihr in Verbindung setzte. Aber würde er das tun, nach allem, was sie ihm angetan hatte?
    Jujú spazierte langsam ostwärts, Richtung Zentrum. Sie konnte den
eléctrico
ja eine Station weiter nehmen. Oder besser noch, ein Taxi anhalten. Alle paar Meter drehte sie sich herum und hielt nach einem freien Wagen Ausschau. Als sie schließlich in einiger Entfernung einen entdeckte, blieb sie stehen, um ihn heranzuwinken. Es dauerte noch eine Weile, bis das Taxi bis zu ihr vorgedrungen war. Der Fahrer hielt mit quietschenden Bremsen an, und zwar an der einzigen Stelle weit und breit, an der Jujú in eine Pfütze hätte treten müssen, um einzusteigen. Sie gab dem Fahrer Handzeichen, er möge ein Stück weiter vorfahren, doch er missverstand sie und brauste fluchend davon.
    »Du hättest doch lieber die Tram nehmen sollen«, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme.
    »Fernando. Was …?«
    »Ich war mir nicht sicher, ob du es wirklich bist. Ich bin gleich an der nächsten Station ausgestiegen und zurückgegangen.«
    »Ja.« Jujú kam sich unglaublich dumm vor. Wie konnte man nur ein so törichtes und unpassendes »ja« von sich geben? Aber etwas anderes wollte ihr einfach nicht einfallen. All die schönen, witzigen, selbstironischen, geistreichen Äußerungen, die sie durchgespielt hatte, waren auf einmal wie weggeblasen. Stattdessen: vollkommene geistige Leere.
    »Geht es dir gut? Du wirkst etwas blass.«
    »Oh, äh … ja. Ja, mir geht es gut. Und dir?« Verflucht, wie konnte sie sich nur derartig beschränkt aufführen?
    »Danke, mir auch.« Fernando sah ihr forschend in die Augen. »Du hast dich verändert, Jujú.«
    »Das will ich meinen. Es sind sieben Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben.« Langsam bekam sie sich wieder in den Griff. Sie hoffte nur, dass er ihre zitternde Stimme nicht bemerkt hatte.
    »Ja.«
    Merkwürdig, dachte Jujú, bei ihm klang ein schlichtes Ja überhaupt nicht hohl. Es klang vielmehr bedeutungsschwer. Anklagend. Oder bildete sie sich das nur ein? Lag es vielleicht einzig an der imposanten Erscheinung, die er in seiner Uniform abgab?
    »Du scheinst es weit gebracht zu haben«, sagte sie. »Nur einen Chauffeur stellen sie dir offenbar nicht zur Verfügung.«
    »Doch, tun sie. Ich nehme seine Dienste nur nicht allzu oft in Anspruch. Es gefällt mir, morgens mit der Tram zu fahren.«
    Zum Glück,

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