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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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je für ein paar Ostereier so reich belohnt worden?«
    Der Fahrer schüttelte den Kopf. Beide dachten wohl an ihre Familie zu Hause.
    »Haben Sie auch Kinder, Schröder?« Er bedauerte, dass er seinen Fahrer, der ihm schon drei Wochen zuvor zugewiesen worden war, noch nicht danach gefragt hatte.
    »Zu Befehl, Herr Leutnant«, antwortete der Fahrer etwas unpassend und schlug die Hacken zusammen. Beide brachen in Lachen aus.
    »Wir müssen weiter«, drängte Ruth. »Es wird schon dunkel.«
    »Ja, geht nur.« Der Leutnant wandte sich wieder der Karte zu.
    Der Fahrer sagte: »Haben wir nicht vorhin eine Gruppe von diesen Kindern aus Maria Quell gesehen, die weiter vorn von der Straße abgebogen ist?«
    »Ich erinnere mich, Schröder. Aber das waren größere Mädchen. Ein Lehrer und eine Rotkreuzschwester waren auch dabei.«
    »Konnte die Schwester singen wie Zarah Leander?«, fragte Ruth.
    Der Leutnant schaute das Kind belustigt an und sagte: »Ich habe sie nicht vorsingen lassen.«
    »Hat der Lehrer ausgesehen wie so eine Bohnenstange, ganz mager und mit Brille?«
    »Genau«, bestätigte der Fahrer. »Geht ihnen nur nach. Gleich dort hinter der Biegung zweigt der Weg ab. Ist auch besser, wenn ihr nicht auf der Landstraße weiterlauft. Denn da vorn, das ist kein Anblick für Kinder.«
    »Ein Unfall?«, fragte Gitta.
    Der Fahrer nickte.
    »Nun aber ab mit euch. In einer Viertelstunde ist es stockdunkel.«
    »Seht ihr«, sagte Ruth zu Gitta und Hertha, »es gibt doch Engel. Oder?«
    Die Kinder fühlten sich ermutigt und erreichten bald die Einmündung eines Schotterwegs. Sie lutschten die Zuckereier und redeten nur dann und wann ein Wort miteinander. Der Wald war zu beiden Seiten dicht an den Weg herangerückt. Der Mond stand zwar rund und voll am Himmel, aber sie sahen nur sein Silberlicht, wenn sich eine Lichtung auftat. Jedes leiseste Geräusch ließ die Kinder zusammenfahren. Mehrmals verließen sie den Weg und drängten sich eng aneinandergeschmiegt zwischen die Bäume.
    Aus der Ferne hörten sie eine Kirchturmuhr zwölf schlagen. Ein leiser Wind kam auf und wiegte die Fichtenspitzen. Schatten sprangen über die Straße und glitten wieder in die Dunkelheit zurück. Einmal hörten sie Schritte und laute Stimmen. Sie versteckten sich und gingen erst wieder auf die Straße zurück, als zwei Männer schon längst vorübergegangen waren. Selbst ein Fuchs, der weit vor ihnen quer über die Straße lief, war für sie ein gespenstisches Untier.
    Die Nachtkälte hatte den angetauten Schnee längst wieder gefrieren lassen. Es knirschte und knackte unter ihren Schuhen. Ihre Schritte wurden schleppend und sie kamen nur langsam vorwärts. Der Schweiß rann ihnen über den Rücken. Endlich ließen sie den Wald hinter sich. Der Mond stand inzwischen tief, aber immer noch strahlte sein sanftes Licht weit über das Land, das sich nach rechts bis zum weit unten liegenden Tal hin öffnete.
    »Da, vor uns ein Haus«, rief Ruth. Sie gingen schneller und hatten das Gebäude schließlich erreicht. Seine Vorderfront lag im Dunkeln. Nur ein Gasthausschild ragte in die Straße hinein und wurde vom Mond beschienen.
    Zum weißen Eber stand in goldglänzenden Lettern darauf, darüber war ein schneeweißer Keiler abgebildet.
    »Licht«, flüsterte Ruth und deutete auf eine helle Ritze am Rand der verdunkelten Fenster.
    Vorsichtig drückten sie die Türklinke hinunter. Die Tür war unverschlossen. Gleich vorn im Flur ging es in die Gaststube. Durch das Schlüsselloch fiel ein Lichtstrahl. Die Mädchen öffneten die Tür und gingen hinein. Was sie sahen, ließ sie erstarren. Der Raum war voller Menschen. Einige hockten an den Tischen und hatten ihren Kopf auf die Tischplatte und die verschränkten Arme gelegt. Andere hatten auf dem Holzfußboden ein Lager gesucht. Auf der Bank gleich neben der Tür lag ein Mann auf dem Rücken. Er atmete schwer, sein Mund stand ein wenig offen. Er war so dünn wie eine Bohnenstange. Seine Brille hatte er auf dem Tisch abgelegt.
    »Dr. Scholten«, flüsterte Ruth den anderen beiden zu. Aber schon dieses leise Geräusch riss den Mann aus seinem flachen Schlaf. Er richtete sich hastig auf und tastete nach seiner Brille.
    Er starrte die Kinder an.
    »Zarski«, sagte er laut. Eine schlaftrunkene Stimme aus der hinteren Ecke antwortete: »Ja, Herr Doktor?«
    »Ruth. Es ist Ruth.«
    »Ruth? Unsere Ruth?« Irmgard stieß ihren Stuhl zur Seite, sprang über schlafende Mädchen und schloss ihre Schwester fest in die Arme.

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