So weit die Wolken ziehen
»Ruth. Gott sei Dank. Du lebst und du hast uns gefunden.«
Alle waren inzwischen wach geworden, rieben sich die Augen und begrüßten die Kinder. Anna berührte die Blechkanne mit dem Tee. Er war noch lauwarm. Sie schüttete die Emailbecher voll und gab sie den Mädchen.
Auch die Soldaten schauten überrascht auf die Kinder.
»Wir sind heute vierzig Kilometer gelaufen.« Ruth fasste Irmgard beim Arm und wiederholte: »Vierzig Kilometer, Irmgard! Das hättest du nie geschafft.«
»Stimmt«, gab Irmgard zu. »Du warst immer schon ein zäher Brocken.«
»Wo sind denn Frau Brüggen und die anderen von eurer Gruppe geblieben?«, fragte Dr. Scholten besorgt.
»Die werden längst in Wilhelmsburg sein. Ein Lkw hat sie mitgenommen.«
»Warum seid ihr zurückgeblieben?«
»Der Lkw fuhr plötzlich an. Frau Brüggen konnte nicht mehr runter und wir standen auf der Straße.«
»Lydia und die aus unserer Klasse habt ihr nicht gesehen?«, fragte Anna.
Die Kinder schüttelten den Kopf.
»Ist was mit Lydia?«, fragte Ruth.
»Sie war …«, Anna schossen die Tränen in die Augen. Sie verkroch sich in die dunkelste Ecke.
»Morgen früh, sobald es hell wird, fahren wir an der Unfallstelle vorbei«, sagte einer der Soldaten. »Ist ja gar nicht gesagt, dass es eure Mädchen waren, die dort umgekommen sind.«
Die meisten waren bald wieder eingeschlafen. Nur Anna lag wach. Immer wieder betete sie: »Lass sie leben, Jesus. Lass sie leben.«
Die Soldaten im Weißen Eber hatten am nächsten Tag Schwierigkeiten, ihren Lkw zu starten. Die Reparatur dauerte lange und sie konnten erst nach zehn Uhr losfahren. Wie sie versprochen hatten, wollten sie Dr. Scholten, Schwester Nora und den Mädchen die Unfallstelle zeigen. Dr. Scholten saß mit in der Fahrerkabine. Die Mädchen und Schwester Nora hockten auf der Ladefläche und duckten sich bis unter die Kante der Seitenplanken, um im Windschatten zu sitzen. Sie waren eng zusammengerückt. Am Himmel zeigte sich kein Wölkchen. Es war kalt. Dr. Scholten spürte, wie sein Herz hart bis zum Hals pochte. Sie näherten sich dem Schreckensort.
»Dort«, sagte der Fahrer, zeigte ins Tal und verlangsamte das Tempo. Dr. Scholten sah den umgestürzten Anhänger. Die Hecktür war halb herausgerissen. Dann fiel sein Blick auf die Körper, die am Straßenrand im zertretenen Schnee lagen.
»Geben Sie Gas! So schnell wie möglich weg von hier. Und nicht eher halten, bis wir dort vorn hinter der Biegung sind«, rief er dem Fahrer zu. »Das sollen die Mädchen nicht sehen. Ich laufe allein zurück.«
Sobald der Lkw gestoppt hatte, stieg er aus. »Bleiben Sie hier bei den Mädchen, Schwester Nora.« Er rannte los. Ohne dass die Schwester es verhindern konnte, schwang sich Anna über die Planke. Sie hatte Dr. Scholten bald überholt und erreichte vor ihm die Unglücksstelle. Die toten Mädchen, nur mit der Unterwäsche bekleidet, hatte man nebeneinander an den Straßenrand gelegt. Die Kleidungsstücke, überall verstreut über dem aufgewühlten Hang, waren verschmutzt und zerrissen. Anna ging steif und langsam an der Reihe der Toten entlang. Sie waren auf den Rücken gelegt worden. Die Gesichter hatte jemand gesäubert. Anna konnte die Namen auf den Ausweisen entziffern, sie stammelte sie vor sich hin. Lydia war nicht darunter. Außer den Mädchen lagen noch andere Tote in der Reihe, ein blondhaariger Junge, zwei Soldaten und zwei Frauen. Dr. Scholten notierte sich mit zittrigen Fingern die Namen der Mädchen. Paula Scheering, die Klassenbeste … Hatte sie nicht das Theaterspiel für die Jüngsten organisiert? … Und war das nicht Gerda Nienveen? … Die aufmüpfige Gerda, die ihren eigenen Kopf hatte und lieber eine Strafe in Kauf nahm, als nachzugeben … Mein Gott! Seine Schülerinnen. Seine Kinder. Dreizehn Tote. Aber wo waren die anderen? Anna wartete auf ihn. Sie zeigte auf ein abgerissenes Namensschild, das auf der Erde lag: Lydia Anna Mohrmann. Dr. Scholten hob den Ausweis auf. »Das muss nicht heißen, dass deine Schwester …«
Anna rannte zum Lkw zurück. Er folgte ihr. Ein größerer Laster bog von der Straße in einen unbefestigten Weg ein, der zu einem abseits liegenden Gehöft führte. Einen Augenblick überlegte Dr. Scholten, ob er zu dem Haus hinaufgehen sollte. Vielleicht wusste man dort mehr. Doch dann hörte er den Kleinlaster, der sie hergebracht hatte, hupen. Er kletterte zu den Mädchen auf die Ladefläche. Anna saß in sich zusammengesunken und hatte ihren Kopf auf die Knie
Weitere Kostenlose Bücher