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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Bürgermeister?«, fragte Dr. Scholten.
    Der Mann lächelte. »Das nicht gerade. Aber ich vertrete ihn. Der Bürgermeister ist …« Er stockte und fügte dann sehr leise hinzu: »Ich will mal sagen, er ist abwesend.« Er räusperte sich. »Verzeihen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Ich heiße Neubauer. Aber nun zu Ihnen. Wann und wohin brechen Sie morgen wieder auf?«
    »Wir wollen einen frühen Zug nach St. Pölten nehmen und dann weiter über Pöchlarn nach Maria Taferl.«
    »Das ist bei Linz. Gut.« Er stand auf und blickte lange auf die Österreichkarte. »Dort werden hoffentlich die Amerikaner einmarschiert sein, bevor die Russen so weit kommen.«
    »Eine Wende gibt es nicht mehr?«, fragte Dr. Scholten.
    »Wunderwaffe oder so was?« Er kicherte und sah Dr. Scholten spöttisch an. »Wunderwaffe!«, wiederholte er und setzte sich wieder. »Ein planmäßiger Zug nach St. Pölten fährt um Punkt neun. Aber was heißt heute schon planmäßig? Selbst beim Rückzug unserer Truppen wird das Wort planmäßig nicht mehr verwendet.«
    Er schrieb eine Telefonnummer auf einen Notizzettel und gab ihn Dr. Scholten.
    »Wenn Sie um halb zehn auf dem Bahnhof immer noch nicht wissen, ob überhaupt ein Zug nach St. Pölten fährt, rufen Sie mich unter dieser Nummer an. Ich sorge dann für einen Lkw, der sie nach St. Pölten bringt. Im Notfall auch bis Pöchlarn. Nur im Notfall. Eigentlich reichen meine Kompetenzen nur bis St. Pölten.«
    Er zog seine Taschenuhr heraus und seufzte: »Schon neunzehn Uhr. Ich mache für heute Schluss. Für morgen alles Gute. Weiter als bis zum nächsten Tag kann sowieso niemand mehr denken und planen.«
    Frau Lötsche hatte mit ihren Schülerinnen Wilhelmsburg am Ostermontag nicht erreicht. Immerhin fand sich ein Lkw-Fahrer, der die Gruppe mitnahm. Sein geschlossener Wagen hatte nur wenige Kisten geladen und die Mädchen nutzten sie als Sitzgelegenheiten. Frau Lötsche setzte sich vorn zum Fahrer. Sie kamen recht gut voran und so sah Frau Lötsche darüber hinweg, dass der Fahrer ziemlich leichtsinnig fuhr. Öfter ließ er viel zu wenig Abstand zum Wagen vor ihm. Als Frau Lötsche dazu vorsichtig eine Bemerkung machte, erwiderte er unwirsch: »Ich sitze seit Jahren hinterm Steuer und heute schon seit achtzehn Stunden. Wenn ich’s jetzt noch nicht könnte, sollte ich mir ein Pferd anschaffen. Ich werde Sie schon sicher nach Wilhelmsburg bringen.«
    Ein paar Kilometer vor Traisen kam der Wagen plötzlich von der Straße ab und streifte eine dicke Platane. Sofort griff Frau Lötsche in das Steuer. Der Fahrer schreckte aus seinem Sekundenschlaf hoch, schlug ihren Arm grob beiseite und bremste scharf. Dicht vor dem nächsten Baum kam er zum Stehen. Er stieg aus und betrachtete den Schaden. Die linke Seite des Lkw war zerbeult und die Seitenplanke der Ladefläche weggerissen. Die Mädchen hatten sich ängstlich auf der rechten Seite der Ladefläche zusammengedrängt. Die Kisten waren nach vorn gerutscht.
    »Ist jemand verletzt?«, rief Frau Lötsche. Niemand antwortete. Einige Mädchen begannen zu weinen.
    »Hört auf zu heulen«, sagte sie. »Ist ja gerade noch mal gut gegangen.« Sie wandte sich an den Fahrer. »Mit dem Weiterfahren ist’s wohl nichts mehr. Ich schlage vor: Pferd anschaffen.«
    »Blöde Trine«, schimpfte der Fahrer. »Wieso haben Sie mir ins Steuer gegriffen.«
    »Steigt aus, Mädchen«, sagte Frau Lötsche. »Vergesst euren Rucksack nicht. Wir sind kurz vor Traisen. Drei Kilometer, schätze ich. Das schaffen wir leicht zu Fuß. Dort werden wir weitersehen.«
    Es waren dann doch mehr als drei Kilometer ins Tal des Flusses Traisen hinunter. Frau Lötsche erkundigte sich beim Ortsgruppenleiter der Stadt nach einer Gelegenheit, wie sie nach Wilhelmsburg gelangen könnten. Der machte ihr keine Hoffnung auf einen Transport mit dem Auto oder mit der Reichsbahn und riet ihr, die gut zehn Kilometer bis Wilhelmsburg entweder zu laufen oder in Traisen zu übernachten. Noch könne er ihr am Stadtrand eine kleine Schule als Nachtquartier anbieten. Es sei ja erst vier Uhr. Am Abend, wenn viele einen Platz zum Schlafen suchten, sähe das anders aus. Ob in Wilhelmsburg dann überhaupt noch ein Unterschlupf zu finden sei, das bezweifle er.
    Frau Lötsche schaute ihre Mädchen an, die frierend und immer noch verschreckt am Straßenrand warteten. Sie entschied sich, bis zum nächsten Morgen in Traisen zu bleiben. In der Schule entdeckten die Mädchen einen Raum, in dem Wehrmachtsdecken

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