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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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muss die Tasche mit den wichtigen Unterlagen mitnehmen. So etwas wie in Wilhelmsburg soll mir nicht noch einmal passieren.«
    »Tragen solltest du besser gar nichts«, sagte Schwester Nora.
    »Ich kann ja mit Ihnen gehen, Dr. Scholten«, bot Anna an. »Ich bin froh, wenn ich ein Stück laufen kann. Und Ihre Tasche trage ich gern.«
    »Nehmen Sie Anna nur mit, Herr Doktor. Die ist gut zu Fuß«, sagte Frau Brüggen.
    »Na, dann wollen wir keine Zeit verlieren«, stimmte Dr. Scholten zu.
    Der Pfad zog sich an den Gleisen entlang. Lange Zeit gingen Dr. Scholten und Anna schweigend nebeneinanderher. Schließlich fragte er: »Ich wollte dich immer schon mal fragen, Anna. Was ist eigentlich mit deiner Schwester Lydia los? Hat sie sich zu Hause auch so auffällig benommen?«
    »Sie hat sich erst in den letzten Tagen verändert. Sie zuckt nicht mehr bei jeder Berührung zusammen. Gott sei Dank. Meine Mutter hat sich oft Sorgen um Lydia gemacht. Das hat schon angefangen, als wir getauft wurden. Vater und Mutter hatten überlegt, dass ich den Namen Anna bekommen sollte. Nach meiner früh verstorbenen Großmutter. Aber da war die Mutter meines Vaters eingeschnappt. Sie heißt Lydia und war auf diesen Namen immer stolz. Auch als mein Vater ihr sagte, dass ich mit meinem zweiten Vornamen dann Lydia heißen sollte, war sie nicht zufrieden. Und dann hat Mutter noch ein zweites Mädchen geboren. Da hat mein Vater, ohne lange mit meiner Mutter zu sprechen, auf dem Standesamt mich mit Anna Lydia und meine Schwester mit Lydia Anna angemeldet. Meine Oma Lydia hat sich so gefreut, dass sie für Lydia gleich ein Sparbuch mit hundert Mark angelegt hat. Irgendwann haben meine Eltern dann bemerkt, dass Lydia sich anders entwickelte als die meisten Kinder.«
    »Ich meine nicht nur Scheu vor Berührungen, Anna. Ich habe nie gesehen, dass deine Schwester mit euch Mädchen rumgealbert hat. Auch vermeidet sie es, jemand in die Augen zu schauen.«
    »Meine Tante hat es zu erklären versucht. Als meine Mutter schwanger war, hat sie gar nicht gewusst, dass sie Zwillinge erwartet. Alle waren überrascht, als nach mir noch ein zweites Kind auf die Welt kam. Lydia war bei ihrer Geburt so schwächlich und klein, dass sogar unser Arzt davon ausging, sie würde die ersten Tage nicht überleben. Mutter hat sich wohl große Sorgen gemacht, wie sie es mit zwei Säuglingen und ihrer Arbeit im Geschäft alles schaffen sollte. Das hätte Lydia gespürt, sagt meine Tante. Von klein auf ein Sorgenkind. Deshalb sei sie so.«
    »Dabei ist sie keine schlechte Schülerin. Ich habe selten ein Mädchen gehabt, das in Mathematik so begabt gewesen ist wie Lydia.«
    »Mathematik hat sie immer mit links gemacht, Herr Doktor. Oft musste sie mir erklären, wenn ich etwas nicht verstanden hatte.«
    »Na, Anna, dafür hast du ihr dann sicher in Deutsch und Englisch geholfen.«
    »Sie hat ungern Hilfe angenommen. Sie wollte sich immer allein durchbeißen. Aber ich glaube, seit der junge Soldat sie nach dem Unglück ins Bauernhaus getragen hat, ist es mit ihr allmählich anders geworden. Sie soll sogar geduldet haben, dass er ihr die Felljacke über die Schultern gelegt hat.«
    »Vielleicht wachsen sich ihre Eigenarten mit der Zeit aus.«
    »Sagt meine Mutter auch oft, Herr Doktor.«
    Das letzte Stück des Pfades führte schnurgerade auf das kleine Bahnhofsgebäude zu. Sie konnten es schon von Weitem sehen. Aber es dauerte noch fast fünfzehn Minuten, bis sie dort ankamen.
    Dr. Scholten konnte tatsächlich telefonieren. Während des Gesprächs wuchs sein Ärger und schließlich rief er: »Das werden Sie nicht tun. Ich habe die klare Anweisung erhalten, dass wir in Schloss Theresienruh eingewiesen sind. Ich kann Ihnen sogar den Sammelfahrschein vorlegen, den wir bekommen haben.«
    Schließlich schrie er: »Sagen Sie, was Sie wollen. Was heißt, Sie haben nichts davon gehört? Dann hören Sie es eben jetzt. Wir werden am späten Abend bei Ihnen sein. Richten Sie sich darauf ein.« Er warf den Hörer auf die Gabel. »Unmöglich, dieser Mensch. Und so etwas ist Lehrer und Ortsgruppenleiter. Na, der wird mich kennenlernen.«
    Er lief vor der Station auf und ab, schimpfte leise vor sich hin und es dauerte einige Minuten, bis er endlich wieder ruhiger wurde. Als er Anna verschreckt auf einer Bank sitzen sah, lachte er auf und sagte: »Keine Angst, notfalls werden wir die Türen aufbrechen.« Dabei schüttelte er seine Faust drohend in die Richtung, in der er Schloss Theresienruh

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