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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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der Markgraf Rüdiger in der Klemme saß. Einerseits hatte er dem Hunnenkönig Etzel die Treue geschworen, andererseits war er ein Burgunder. Als es zum letzten großen Kampf zwischen den Hunnen und den Burgundern kam, musste er sich entscheiden, auf welcher Seite er kämpfen sollte. Was er auch tun würde, immer war es richtig und falsch zugleich. Sollte er gegen seine Freunde aus Burgund das Schwert heben und seinen Eid halten? Sollte er sich auf die Seite der Burgunder schlagen und seinen Treueschwur brechen?«
    »Was hättest du an seiner Stelle getan?«, fragte Irmgard, die am Fenster saß.
    Frau Brüggen mischte sich ein. »Manchmal gibt es Fragen im Menschenleben, auf die gibt es keine richtige Antwort.«
    »Und wie ging es aus?«, fragte Ruth mit leiser Stimme.
    Anna antwortete: »Markgraf Rüdiger wollte seinen Eid nicht brechen. Er wurde von seinen Landsleuten im Kampf getötet. Viele Hunnen kamen zu Tode und von den Burgundern ist kein Einziger lebend in seine Heimat am Rhein zurückgekehrt. Wer nicht in der Schlacht gefallen ist, wurde beim Brand in der Etzelsburg getötet.«
    »Stimmt es, dass wir Deutsche diese Sage besonders … wie soll ich sagen?«, fragte Ruth.
    Frau Brüggen wollte ihr helfen. »Du meinst, dass für uns Deutsche das Nibelungenlied eine Art Vorbild ist. Die Treue, das Einstehen füreinander, nicht wahr?«
    Ruth nickte.
    »Frage Dr. Scholten, er ist ein Kenner dieses Stoffs.«
    »Sollen wir auch im Brand der Städte untergehen?«, rief Anna und starrte Dr. Scholten mit angsterfülltem Blick an.
    »Und alle umkommen?«, fragte Irmgard.
    In diesem Augenblick gab es ein schreckliches Gerüttel und Gepolter. Dr. Scholten wurde zur Seite geschleudert, Rucksäcke fielen aus den Gepäcknetzen, Mädchen schrien durcheinander. »Tieffliegerangriff! … Bomben! … Die Russen!«
    Endlich kam der Zug zum Stehen. Alle rappelten sich auf.
    »Entgleist!«, hörten sie. »Der Zug ist entgleist!«
    Dr. Scholten war mit seinem rechten Arm gegen die Kante der Holzbank geprallt. Es tat höllisch weh, aber er biss die Zähne zusammen. Vorsichtig öffnete er das Fenster und sah hinaus. Die hinteren Waggons waren aus den Schienen gesprungen. Der letzte stand so schief, dass er umzustürzen drohte.
    Das Bahnpersonal half den Fahrgästen, den Waggon zu verlassen. Die Mädchen hatte es nicht so arg getroffen. Sie durften in ihren Abteilen bleiben.
    Wenig später rief eine Schaffnerin durch einen blechernen Trichter: »Achtung, Achtung! Zwei Waggons sind entgleist. Die Zugführung wird von der nächsten Station Hilfe anfordern. Auch Linz wird man Bescheid geben. Es wird allerdings einige Stunden dauern, bis es weitergeht. Bewahren Sie Ruhe und haben Sie Geduld.«
    Dr. Scholten eilte nach vorn und erkundigte sich bei dem Zugleiter, wie die Hilfe denn aussehen könnte.
    »Genau wissen wir das auch nicht. Wahrscheinlich werden die defekten Waggons einfach abgehängt und dann geht es weiter. Aber Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Selbstverständlich werden alle Passagiere in den ersten Waggons hinter der Lok unterkommen.«
    »Wie lange dauert so etwas?«
    »Lieber Herr, wir haben keine Propheten im Zug.«
    »Ich muss unbedingt in Schloss Theresienruh anrufen, dass wir erst Stunden später ankommen. Man erwartet uns dort.«
    »Lassen Sie mich doch in Ruhe«, sagte der Zugführer ungehalten. »Ich habe schon genug Probleme.«
    Die Schaffnerin riet ihm: »Der nächste Haltepunkt ist nur wenige Kilometer entfernt. Vielleicht gehen Sie zu Fuß. Dort gibt’s ein Telefon. Wir werden später dort halten und Sie können wieder zusteigen.«
    Dr. Scholten rief die Lehrerinnen zusammen.
    »Klar«, sagte Frau Wisnarek, »Sie müssen gehen.« Süffisant fügte sie hinzu: »Frau Brüggen hat ja schon Übung darin, die Leitung zu übernehmen.«
    »Gehen Sie nur«, sagte Frau Brüggen. »Hier können wir doch nichts tun außer warten.«
    Dr. Scholten hielt sich den rechten Arm.
    »Lass mich mal sehen, Otto«, sagte die Schwester. Sie half ihm, die Jacke auszuziehen, streifte den Pulloverärmel hoch und betastete Knochen und Gelenk. »Nicht gebrochen. Aber auch eine Stauchung ist schmerzhaft.«
    Während er sich vorsichtig wieder anzog, holte sie ein schwarzes Dreiecktuch aus ihrem Notfallkoffer, knotete es hinter seinem Kopf zusammen und legte den Arm in die Schlinge.
    »Stillhalten. Unbedingt den Arm stillhalten.«
    »Kann ich trotzdem bis zum nächsten Haltepunkt laufen?«
    »Bis nach Berlin, wenn du willst.«
    »Aber ich

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