So weit die Wolken ziehen
Zimmer für die Lehrerinnen und den Herrn liegen übrigens auch in der ersten Etage am Ende des Flurs. Allerdings sind es Doppelzimmer.«
»Danke«, sagte Schwester Nora. »Wir werden zurechtkommen.«
Trotz des schlecht eingerührten Mehls aßen die Mädchen ohne Murren die Einbrennsuppe. Von dem trockenen Brot hätten sie gern mehr gehabt als nur die eine Scheibe. Aber immerhin war der größte Hunger gestillt.
Nach dem Essen wären alle am liebsten gleich in die Schlafsäle gegangen, die Lehrerinnen ordneten jedoch an, dass vorher das Geschirr gespült und Speisesaal und Küche aufgeräumt werden sollten.
Es war schon nach Mitternacht, als die Schülerinnen in ihren Betten lagen.
»Morgen werden wir sehen, wie es weitergeht«, sagte Dr. Scholten zu den Lehrerinnen.
Im Halbschlaf hörte Anna das Läuten von Kirchenglocken. Sie blinzelte in das helle Tageslicht. Durch die drei vierflügeligen Fenster schien die Sonne. Die Vorhänge waren genau wie die Bettbezüge blau-weiß gemustert. Mit einem Ruck setzte Anna sich auf und schaute sich um. Zwanzig Betten standen in dem Schlafsaal. Zwischen den Betten gab es so viel Platz, dass zwei Spinde nebeneinander aufgestellt worden waren. In einer Hälfte des großen Raums standen eine Eckbank, Tische und Stühle. Alle Möbel waren aus hellem leicht rötlichem Holz gefertigt. Trotz der vielen Betten sah es wohnlich aus. Natürlich fehlte das obligatorische Hitlerbild nicht, aber es gab auch großformatige Fotos von der Olympiade 1936 in Garmisch-Partenkirchen. Erst auf den zweiten Blick fiel Anna auf, dass nur Fotos von Sportlerinnen aufgehängt worden waren.
Allmählich wurde es in den Räumen und auf den Fluren lebendig.
»Heute werden wir sicher länger liegen bleiben dürfen, weil wir erst so spät ins Bett gekommen sind«, sagte Lydia.
Ruth hatte fest und gut geschlafen. »Hoffentlich werden wir bald zum Frühstück gerufen. Ich habe Hunger.«
»Aha, unsere Kleine ist wieder gesund«, sagte Anna. »Und wie steht es mit dir, Irmgard?«
»Ich fühle mich noch matt und könnte noch stundenlang schlafen. Aber zum Frühstück werde ich aufstehen.«
Frau Krase betrat den Raum. »Leider, Mädchen, bekommen wir heute Morgen nichts zu essen. Dr. Scholten hat schon wieder Streit mit der Hauswirtin, einer Frau Eggers. Sie hat gesagt, dass wir ja heute Nacht schon etwas zu essen gehabt hätten. Damit sei das Frühstück vorweggenommen worden. Die Vorräte seien knapp bemessen. Sie könne sich nichts aus den Rippen schneiden.« Die Mädchen stimmten ein lang gezogenes Buh an. »Leider hat Dr. Scholten vergebens versucht, Frau Eggers umzustimmen.«
»Heute ist Sonntag«, sagte Anna. »Es hat vorhin zur Messe geläutet. Um elf ist bestimmt noch ein Gottesdienst. Ich würde dann gern zur Kirche gehen.«
»Das solltest du dir überlegen. Wenn du in den Spiegel schaust, wirst du feststellen, dass du genau wie alle anderen eine gründliche Wäsche nötig hast. Im Schlafraum nebenan haben einige Mädchen in ihren Haaren Läuse gefunden. Kurzum, bis zum Mittagessen um ein Uhr ist gründliche Körper-, Kleider- und Schuhpflege angesagt. Im Kellergeschoss befinden sich große Waschräume. Ich bin zwar keine LMF, aber wir Lehrerinnen werden gründlich kontrollieren, ob eure und unsere Vorstellungen von Reinlichkeit übereinstimmen. Wenn eine von euch Läuse bei sich feststellt, meldet sie das sofort der Schwester Nora. Also, frisch ans Werk.«
»Ich fühl mich für so was doch noch nicht gesund genug«, sagte Ruth und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Auch Irmgard setzte eine Leidensmiene auf.
»Anna und Lydia, ihr sorgt dafür, dass die beiden nicht ungewaschen davonkommen«, sagte Frau Krase beim Hinausgehen.
»Immer wir«, maulte Lydia.
Das Mittagessen mussten sich die Mädchen an der Durchreiche zur Küche abholen. Die Portionen auf den Tellern bestanden aus jeweils drei kleinen Kartoffeln, ein paar gekochten Bohnen und einem Löffel dunkler Soße, in der ein paar Fleischfasern schwammen.
»Nachgefasst werden kann nicht«, sagte Frau Eggers. »Wir haben nicht mit einer neuen Einquartierung gerechnet. Unsere Vorräte sind erschöpft.« Mit einer heftigen Bewegung schloss sie den Rollladen der Durchreiche.
»Das ist ja nur was für den hohlen Zahn«, schimpfte Lydia.
Dr. Scholten versprach: »Ich werde morgen mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer reden. Wir müssen irgendwie Nahrungsmittel organisieren.« Er musste über sich selbst lachen.Wie schnell die neuen
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