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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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vermutete.
    »Ich habe noch ein paar Brotmarken«, sagte er. »Du hast sicher auch Hunger. Da drüben ist eine Bäckerei. Vielleicht bekommen wir dort zwei Brötchen. Aber wir können hier nicht weg. Der Zug wird nicht auf uns warten. Wenn er kommt und wir stehen nicht bereit, fährt er ohne uns los.«
    Anna sprang vom Bahnsteig auf die Gleise und legte ein Ohr auf eine Schiene. »Keine Gefahr. Die Fahrgeräusche kann man lange hören, bevor der Zug ankommt. Wenn Sie erlauben, renne ich in die Bäckerei.«
    Er gab ihr die Brotmarken.
    »Du hast Glück«, sagte das Mädchen, das hinter der Theke saß und strickte. »Ein paar Semmeln sind noch übrig geblieben.«
    »Meine Marken reichen nur für zwei.«
    Das Mädchen schlug die Brötchen in Zeitungspapier ein. »Tüten sind auch ausgegangen. Macht zehn Pfennig.«
    Anna wurde rot. Sie hatte das Geld vergessen. »Ich hab kein Geld bei mir«, stotterte sie.
    Das Mädchen legte die Brötchen wieder in den Korb zurück. »Meine Chefin ist sehr genau, weißt du.«
    »Klar. Aber ich habe Hunger.«
    »Moment, ich schaue mal eben in die Backstube.«
    Bald darauf kam sie mit ein paar langen dünnen Streifen in der Hand zurück. »Magst du das?«, fragte sie.
    »Sieht nach Gebäck aus«, sagte Anna.
    »Schon. Es sind die abgeschnittenen Kanten vom Kuchen auf der Platte. Heute war hier eine große Beerdigung mit vielen Leuten. Anschließend gab es Kaffee und Kuchen. Mein Onkel in der Backstube lässt sich nicht davon abbringen. Die Kanten müssen abgeschnitten werden, sagt er immer, damit es keine Randstücke gibt. Alle Kuchenstücke sollen gleich aussehen. Ich habe vier Schwestern. Für uns gibt es an solchen Totentagen nichts anderes zu essen als diese Abfallstreifen. Du tust uns einen Gefallen, wenn du etwas davon mitnimmst. Kosten tut’s nix.«
    Anna probierte ein Eckchen. »Wunderbar. Süß und knusprig. Schade, wahrscheinlich komme ich nie wieder in deinen Laden. Sonst würde ich dich noch oft von diesen Resten befreien.«
    Mit einem »Vergelt’s Gott« rannte sie zum Bahnhof zurück. Sie hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Der um die entgleisten Waggons verkürzte Zug sollte erst gegen neun Uhr einlaufen.
    Dr. Scholten hatte im Bahnhof zwei zusammenlegbare Tragbahren gefunden und sie einfach mitgenommen.
    »Ich entdecke noch meine Begabung zum Meisterdieb«, sagte er. »Aber wenn dies vorläufig sowieso der letzte Zug ist, dann braucht man hier an der Station auch keine Tragen mehr. Diebstahl aus Nächstenliebe ist bestimmt kein Verbrechen.«
    Neben ihm stand eine alte, gebeugte Frau. Sie schaute über den Rand ihrer Brille zu ihm auf. »Wer redet denn hier von Diebstahl?« Sie kicherte. »Wie will man in diesen Tagen denn durchkommen, wenn man sich nicht umschaut und mitgehen lässt, was man zum Überleben nötig hat? Das heißt heute nicht mehr Diebstahl. Organisieren ist das neue Wort dafür.«
    »Zuerst verwildert die Sprache, dann gehen auch die guten Sitten verloren«, antwortete Dr. Scholten ihr.
    Die Frau schüttelte den Kopf über so viel Weltfremdheit.
    Schließlich rollte der Zug langsam ein. Sie stiegen ein. Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Oberhalb des Orts lag Schloss Theresienruh als düsterer Schatten im Mondlicht.
    Dr. Scholten erkundigte sich nach dem Haus, in dem der Ortsgruppenleiter wohnte. Es lag ein paar Hundert Meter vom Bahnhof entfernt.
    »Also los, Mädchen«, rief er. »Wir gehen gemeinsam. Ich glaube, allein bin ich nicht stark genug, einen Streit durchzustehen.«
    Einige jammerten: »Wir sind hundemüde, Herr Doktor … Können wir nicht hier auf Sie warten? Wir schaffen das einfach nicht mehr.«
    »Ich meine, wir wollten alle zusammenbleiben? Also reißt euch zusammen. Kommen wir übern Hund, kommen wir übern Schwanz.«
    Langsam wie eine Wüstenkarawane zogen die Mädchen hinter Dr. Scholten her. Ruth und Irmgard wurden auf den Tragen mitgeschleppt. Das Haus lag abseits der Straße in einem Park. Als sie es fast erreicht hatten, wurde ein Fenster geschlossen. Ein runder, mit weißen Kieselsteinen belegter Platz vor dem Eingang war mit einer niedrigen Natursteinmauer eingefasst. An einem hohen Mast bewegte sich träge eine Hakenkreuzflagge im leichten Wind.
    »Man hat bemerkt, dass wir kommen«, sagte Frau Brüggen.
    Dr. Scholten stieg die Stufen zur Haustür hoch und zog an einem Messinggriff. Drinnen schepperte eine Glocke, doch nichts rührte sich. Er läutete heftiger. Als auch das vergeblich blieb, trommelte er

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