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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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wütend mit der Faust gegen die Tür. Schließlich trat er mit den Füßen dagegen und hörte und hörte nicht mehr auf.
    Endlich wurde es hell im Eingangsflur. Ein kleines Sichtfenster neben der Tür wurde aufgerissen und eine hohe Männerstimme überschlug sich: »Was erlauben Sie sich? Ich werde die Gendarmerie anrufen und Sie anzeigen. Anzeigen werde ich Sie.«
    »Wenn Sie uns nicht sofort den Schlüssel für das Schloss aushändigen, schlagen wir Ihnen sämtliche Fensterscheiben ein«, drohte Dr. Scholten.
    Die Mädchen waren zurückgewichen. Nie zuvor hatten sie ihren Lehrer so außer sich gesehen. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und die Adern an seinem Hals traten dick hervor. »Nehmt euch Kieselsteine«, rief er den Mädchen zu. »Auf mein Kommando zielt ihr auf die Fenster und werft.«
    »Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie hier reden?«, schrie der Mann im Haus.
    »Doch! Mit einem Mann, der als Lehrer ein Herz für uns haben müsste, und mit einem Ortsgruppenleiter unserer Partei, dessen Verhalten ich der Gauleitung melden werde. Sie verweigern den Befehl, uns aufzunehmen. Sie wissen, wie Befehlsverweigerung bestraft wird.«
    Höhnisches Lachen drang aus dem Haus.
    »Die Gauleitung, wo steckt die denn? Hat die sich nicht längst aus unserem schönen Österreich abgesetzt?«
    »Möglich«, erwiderte Dr. Scholten. »Dann werde ich von Ihrer leitenden Tätigkeit in der Partei berichten, sobald die Amerikaner hier einmarschiert sind. Die werden sich freuen, wenn sie einen wie Sie erwischen.«
    Schwester Nora sprang aufgeregt die Stufen hinauf. »Rede dich nicht um Kopf und Kragen, Otto.«
    Er stieß sie beiseite und rief: »Nun, was ist, Parteigenosse?«
    Offenbar hatte der Ortsgruppenleiter es mit der Angst bekommen, denn plötzlich hielt er den Schlüssel zum Schloss durch das Fenster nach draußen.
    »Das wird Konsequenzen haben«, schrie er. »Das muss ich mir nicht bieten lassen.«
    Die Mädchen, die zuerst erschöpft auf der Einfassungsmauer des Platzes gesessen hatten, waren durch Dr. Scholtens Wutausbruch aufgeweckt worden und aufgesprungen. Frischer als zuvor strebten sie nun dem Schloss zu. Dr. Scholten aber sackte erschöpft in sich zusammen und ging mit schleppenden Schritten hinter ihnen her.
    Das Portal von Schloss Theresienruh war weit geöffnet. Vier Frauen starrten ihnen missmutig entgegen.
    »Drei Schlafsäle in der ersten Etage«, sagte eine hagere Frau, die an ihrem weißen Kittel das Parteiabzeichen trug. »Was ist mit den beiden auf den Tragen? Sie schleppen uns doch keine Seuche ins Haus, oder?«
    »Nein, es ist nichts Ernstes«, antwortete Dr. Scholten. »Die beiden Mädchen sind von einem Brechdurchfall geschwächt. Wir brauchen etwas zu essen. Etwas Warmes. Es ist kalt heute Nacht.«
    »Unsere Küche ist nachts geschlossen.«
    Schwester Nora sah, dass Dr. Scholten am Ende seiner Kräfte war.
    Sie sagte zu den Frauen: »Sind Sie nicht auch Mütter? Sehen Sie nicht, was mit uns los ist?«
    »Die Küche ist geschlossen«, wiederholte die Frau.
    Da mischte sich eine jüngere Frau ein und sagte: »Wir können sie wieder öffnen. Eine heiße Suppe macht doch keine Mühe.«
    Die hagere Frau, offenbar die Leiterin des Hauses, schaute sie aufgebracht an. »Wenn ihr das tun wollt, bitte schön. Der Ortsgruppenleiter hat mir …« Sie drehte sich um und verschwand in dem dunklen Flur.
    »Der Speiseraum ist gleich vorn, die erste Tür links. Und übrigens, ich bin die Gabi«, sagte die junge Frau. »Es wird eine Viertelstunde dauern. Gehen Sie schon mal hinein.«
    Im Speisesaal standen mehrere schwere, lange Eichentische und klobige Stühle. Von der hohen Kassettendecke hingen Kristallleuchter. Weil aber in jedem Leuchter nur eine schwache Birne brannte, war das Licht schummrig. An den Wänden hingen in vergoldeten Rahmen Porträts von Frauen und Männern in altertümlichen Roben.
    »Tragt ihr die Suppentöpfe selbst aus der Küche?«, fragte Gabi. In drei großen Blechtöpfen schwappte eine tiefbraune Brühe. »Es ist eine Einbrennsuppe. Die Teller und das Besteck sind im Buffet. Dort im Korb ist für jeden eine Scheibe Brot.« Dann zeigte sie auf einen Stieltopf. »Ich habe für die Kranken etwas Haferschleim gekocht und ein Kännchen Fencheltee aufgegossen. Aber haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir uns jetzt zurückziehen. Wir sind seit sechs Uhr in der Früh auf den Beinen und mussten das ganze Schloss von all dem Dreck befreien, den die letzten Gäste hinterlassen hatten. Die

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