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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Lötsche das Parteiabzeichen und steckte es an sein Revers.
    »Wo haben Sie denn Ihr eigenes gelassen?«, fragte Frau Lötsche.
    »In Maria Quell zurückgeblieben. Aber Sie können beruhigt sein, ich bringe Ihres bestimmt wieder mit.«
    »Hoffentlich hat deine Mission Erfolg«, wünschte Schwester Nora. »Von dem, was hier aus der Küche auf den Tisch kommt, werden nicht mal die schlechtesten Esserinnen unter den Mädchen satt.«
    Zum Mittagessen gab es wieder eine dünne Einbrennsuppe. Aber das Mehl war zusammengeklumpt. Trotzdem blieb kein Rest übrig.
    Eine feste Tagesordnung gab es nicht mehr. Sicher, die Lehrerinnen schauten morgens nach, ob die Schlafsäle in Ordnung gebracht worden waren, und auch die Inspektion der Spinde war wieder aufgenommen worden. Schwester Nora hatte Sprechzeiten eingerichtet. Aber trotz alledem und der angesetzten Flick- und Stopfstunden blieb viel freie Zeit, weil der Unterricht noch nicht wieder aufgenommen worden war.
    »Wir könnten uns doch mal im Ort unten umsehen, Anna«, schlug Ruth vor.
    »Bist du nicht noch zu schlapp dafür?«
    »Ist doch nicht weit. Das schaffe ich schon.«
    Sie bummelten die Hauptstraße entlang und fragten in einer Bäckerei nach Brot. Aber sie hatten kein Glück. Erst am Donnerstag ab acht Uhr sei wieder etwas im Laden. Sie sollten sich aber schon früh anstellen, die Letzten in der Schlange würden wohl nichts mehr mitbekommen.
    Anna und Ruth waren schon wieder an der Ladentür, da rief die Bäckersfrau sie noch einmal zurück. »Brotmarken müsst ihr dann schon mitbringen.« Dann holte sie unter dem Ladentisch einen Kanten altbackenes Brot hervor, schnitt ihn in der Mitte durch und gab den Mädchen die Stücke.
    Sie bedankten sich, setzten sich am Ende des Orts auf eine Bank und kauten auf dem Brot herum.
    »Knochenhart. Beiß dir nicht die Milchzähne aus«, sagte Anna.
    »Milchzähne!«, schnaubte Ruth empört. »Ich hab schon längst keine mehr. Mit dem harten Brot, das finde ich gar nicht schlecht. Da hat man lange was davon.«
    Anna entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gärtnerei. Die Gewächshäuser erstreckten sich bis weit ins Ackerland hinein. Aber offenbar hatten die Tiefflieger auf die blinkenden Glasscheiben geschossen oder es waren vielleicht sogar Bomben gefallen. Jedenfalls waren fast alle Scheiben zerstört. Nur noch Splitter hingen in der Stahlkonstruktion. Im Wohnhaus an der Straße waren die Fenster mit Brettern vernagelt.
    »Wird bei uns zu Hause bestimmt noch schlimmer aussehen. Da steht kein Stein mehr auf dem anderen. Ob wir das jemals wieder aufbauen können?«, sagte Anna.
    »Da wohnt jemand.« Ruth zeigte zu den Gewächshäusern hin.
    »In den Ruinen?«
    »Weit hinten, schau mal, da ragt ein Ofenrohr in die Luft und es qualmt.«
    »Tatsächlich. Wir gehen mal hin.«
    Sie sammelten die Krumen von ihren Kleidern. Nichts sollte verloren gehen. Dann überquerten sie die Straße und gingen den Weg an den Trümmern der Gewächshäuser entlang. Weit hinten waren schon wieder einige Glasscheiben eingesetzt worden. Aber niemand arbeitete dort.
    »Genau wie bei uns«, sagte Anna. »Hinter dem Glashaus liegt die Pflanzstube. Und da qualmt’s aus dem Kaminrohr.«
    Vorsichtig gingen sie näher. Anna klopfte an die Tür. Nach wenigen Augenblicken wurde sie geöffnet. Ein Mann in einer abgetragenen Militäruniform schaute heraus. Er hatte einen dunklen Dreitagebart. Sein Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht dreißig? Sein Gesicht war hager, die Nase schmal und lang. Die Achselklappen und Kragenspiegel waren abgetrennt worden und dort, wo wohl die Auszeichnungen gesessen haben mochten, klaffte jetzt ein Triangelriss.
    »Was spioniert ihr hier herum?«, raunzte der Mann sie an.
    »Gar nicht«, antwortete Ruth. »Wir haben gesehen, dass Rauch aus dem Rohr kommt. Da dachten wir …«
    »Ich komme nämlich auch aus einer Gärtnerei«, sagte Anna. »Aber bei uns hat der Krieg noch schlimmer gewütet als hier. Alles ist kaputt.«
    »Noch schlimmer?« Er lachte und riss die Tür ganz auf. Der linke Uniformärmel hing schlaff herunter. »Noch schlimmer, wie?« Er streifte die Jacke ab. Sie sahen seinen Armstumpf. »Kommt rein«, sagte der Mann. »Ich bin Friedrich. Kurz bevor die Russen ganz Wien besetzten, wurde das Lazarett aufgelöst.«
    »Sind Sie hier zu Hause?«, fragte Anna.
    »Zu Hause?«, wiederholte er leise. »Das weiß ich nicht mehr genau. Als ich zurückkam, waren meine Mutter und meine Schwester nicht da. Kein

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