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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Begriffe in meinen Wortschatz geglitten sind,dachte er.
    Auch das Abendessen fiel karg aus. Es gab wieder nur eine Scheibe trockenes Brot und dazu in Wasser gekochte Haferflocken mit Süßstoff.
    Anna sagte laut: »Wenn mein Magen nicht knurren würde, ginge der Fraß wieder in die Küche zurück.«
    »Ich weiß nicht, was du immer zu meckern hast, Anna.« Lydia leckte sich übertrieben die Lippen und verdrehte die Augen. »Dieser Wonneschlamm schmeckt doch köstlich.« Alle lachten.
    »Ab morgen wird alles besser«, sagte Dr. Scholten.
    Der Bürgermeister konnte Dr. Scholten nur den Rat geben, beim Ernährungsamt in der Kreisstadt vorzusprechen. So viele Personen mit Nahrungsmitteln zu versorgen, das übersteige seine Möglichkeiten.
    Er versuchte es beim Pfarrer. Der sagte: »Wissen Sie, Herr Doktor, ich stamme aus Tirol. Wir hatten eine Landwirtschaft oben in den Bergen. Da ging es nicht üppig zu. Meine Eltern waren froh, als ich im Internat St. Johann bei den Patres aufgenommen wurde. Bei sechs Kindern ein Esser weniger, das war besonders im Winter eine Entlastung. Trotzdem ging es der Familie schlecht. Wenn das Brot ausgegangen war und sich auch sonst kaum noch etwas zu essen fand, dann schickte meine Mutter meine Schwestern und Brüder den weiten Weg hinunter ins Dorf. Dort klapperten sie die Häuser und Höfe ab und bettelten um eine Scheibe Brot oder um ein paar Kartoffeln. Aber unsere Mutter war nicht die Einzige, die ihre Kinder auf den Bettelpfad schicken musste. Oft wurde ihnen die Tür gewiesen. Aber hier und da packte die Leute auch das Mitleid und die Bettelkinder erhielten ein Stück Brot, ein Säckchen Mehl, ein paar Löffel Zucker. Ab und zu wurde es auch geduldet, dass sie sich bei einer Mahlzeit mit an den Tisch setzten. Einmal hat meine Schwester drei Eier bekommen. Voller Freude wollte sie die zur Mutter hinauftragen. Aber der Weg war steil und holprig. Sie konnte unser Haus schon sehen, als sie ausglitt und die Eier zerbrachen. Sie hatte sich ihre Blechtasse an den Gürtel gebunden. Darin sammelte sie noch das, was sie retten konnte, und gab es der Mutter unter Tränen. Meine Mutter hat sie in den Arm genommen und getröstet. Sorgsam hat sie alle Schalenstückchen entfernt und die Reste der Eier in die Abendsuppe gerührt. Selbst der Vater hat die Suppe gelobt. Er hat bestimmt meine Schwester gemeint und nicht die Suppe. Denn uns Kinder direkt zu loben, das ist ihm nur selten über die Lippen gegangen.«
    »Wollen Sie mir damit andeuten, dass ich die Mädchen zum Betteln losschicken soll? So schlimm steht es nun doch noch nicht.«
    Der Pfarrer hob die Hände und sagte schließlich: »Wenn der Hunger quält, dann ist Stolz ein schlechter Ratgeber.«
    Dr. Scholten schwieg nachdenklich. »Wenn es wirklich einmal nötig ist, dann mach ich’s, Herr Pfarrer. Aber nur, wenn Sie am Sonntag vorher statt der Predigt diese Ihre Geschichte der Gemeinde als Beispiel erzählen. Vielleicht denken die Dörfler daran, wenn unsere Mädchen an ihre Türen klopfen.«
    »Na, da hab ich mir ja was Schönes eingebrockt. Vom Predigen wird allerdings niemand satt. Aber ich hoffe, meine Worte werden manchen Leuten Ohren und Hände öffnen für die Bettelkinder von Maria Quell. Sagen Sie mir nur vorher, wann Sie es angehen wollen.« Er rief nach der Haushälterin.
    Sie kam in sein Zimmer und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Was gibt’s, Hochwürden?«
    »Schlagen Sie dem Herrn Doktor einen Streifen vom Tiroler Speck ein. Nicht zu knapp. Dazu eine Tüte Maronen und eine Flasche Kalterer.«
    »Wirklich?«, fragte sie überrascht.
    »Nun machen Sie schon, Fräulein Nannerl.«
    Er schmunzelte und sagte zu Dr. Scholten: »Das werde ich allerdings nicht auf der Kanzel erzählen. Außer, wenn ein Neunmalkluger mich nach der Messe fragen sollte, was ich denn selbst für die Hungrigen getan habe. Der Speck wird auch in großen Töpfen durchzuschmecken sein. Die Maronen sollten Sie braten und Ihre Lehrpersonen davon kosten lassen. Der Wein ist allein für Sie. Der macht mutig. Und Mut werden Sie brauchen, wenn Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen schmackhaft machen wollen, dass die Schülerinnen betteln gehen sollen.«
    »Nur Kolleginnen, Herr Pfarrer. Ich bin zurzeit der einzige Mann im Kollegium.«
    Aber noch zog Dr. Scholten den Korken nicht aus der Flasche. Erst machte er sich auf den Weg in die Kreisstadt. Um seiner Bitte um Nahrungsmittel für die Mädchen Nachdruck zu verleihen, lieh er sich von Frau

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