So weit die Wolken ziehen
sollten.
Außerdem konnte sie Dr. Scholten eine größere Geldsumme überreichen, die sie vom Flüchtlingsfonds gegen Quittung erhalten hatte.
»Endlich wieder ein paar Hundert Mark in der Kasse«, sagte Dr. Scholten erleichtert.
Bei den Mädchen hatte es sich schnell herumgesprochen, dass es Salat geben sollte. Weil sie ihn selbst angebaut hatten, war die Freude besonders groß. Aber dann schlug die gute Stimmung um. Dr. Scholten sagte mit belegter Stimme: »Liebe Schülerinnen, ich muss euch eine traurige Mitteilung machen. Unser geliebter Führer Adolf Hitler ist wenige Tage nach seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag in Berlin mit der Waffe in der Hand gefallen. Bis zum letzten Atemzug hat er gegen die russischen Eindringlinge gekämpft. Erhebt euch bitte im Gedenken an einen großen Deutschen.«
Still standen die Mädchen da, betroffen und niedergeschlagen. Bei vielen flossen Tränen.
»Danke«, sagte Dr. Scholten. »Wir werden uns um acht Uhr zu einer Trauerfeier versammeln.«
»Wie soll es jetzt nur weitergehen?«, flüsterte Irmgard.
Frau Krase und Frau Brüggen saßen in ihrem Zimmer. Auch sie wurden bedrängt von dem Gedanken, was nun werden sollte.
»Was hältst du von der Gedenkfeier?«, fragte Frau Krase.
»Ach, Luise, ich bin froh, dass ich sie nicht gestalten muss. Was soll man auch dazu sagen? Ich frage mich immer öfter, wohin Hitler uns eigentlich geführt hat.«
»In unsagbares Elend, Lene. So viele Tote. Aber wir haben uns führen lassen und mitschuldig gemacht. Führer, befiehl, wir folgen dir. Wie oft haben wir das gedacht und gesagt.«
Sie schwiegen bedrückt. Frau Brüggen fielen wieder die Menschen aus dem Lager ein, die sie in Mauthausen gesehen hatten. Die Juden auch. Sie dachte an den Hirtenbrief des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, der von den Kanzeln verlesen worden war. Er hatte sich vehement gegen die Tötung von Geisteskranken und Behinderten gewandt. Damals war für sie zum ersten Mal hinter dem Bild vom schöneren Deutschland eine andere Wirklichkeit sichtbar geworden. Aber dann hatte sie diese und auch andere schlimme Nachrichten immer wieder verdrängt und sich nicht gestattet, daran zu denken.
In der Gedenkstunde wurde vom Grammofon getragene Musik gespielt. Dr. Scholten schilderte den Lebenslauf Hitlers und zählte all die Erfolge auf, die ganz Deutschland begeistert hatten.
»Auch euch, Mädchen, ist das neue Deutschland zugutegekommen. Arbeit für alle. Ihr seid Oberschülerinnen. Ihr werdet das Abitur machen können. Unser Führer hat dafür gesorgt, dass die höheren Schulen von begabten Kindern aus allen Schichten besucht werden können. In jedem unserer Jahrgänge sitzen Arbeiterkinder neben Mädchen aus begüterten Familien. Die Gesellschaft der Klassen ist abgeschafft worden. Ein einiges deutsches Volk, eine Volksgemeinschaft, das ist zum ersten Mal im Dritten Reich gewachsen.« Er sprach fast dreißig Minuten lang und schloss mit dem Satz: »Adolf Hitlers Erbe darf nicht untergehen.«
Als sie später wieder in ihrem Zimmer waren, sagte Frau Brüggen zu Frau Krase: »Als Dr. Scholten sein Parteiabzeichen abgelegt hat, habe ich angenommen, er hätte mit der Partei, mit Hitler endgültig gebrochen. Und nun diese Rede. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Er ist wie wir alle völlig durcheinander. Wer kann die Ereignisse der letzten Wochen eigentlich richtig bewerten, Luise? Ist nicht mit dem Tod Hitlers eine Welt, unsere Welt, auseinandergebrochen?«
Am 1. Mai fanden die Schülerinnen die Tische im Speisesaal mit Birkenlaub und winzigen Veilchensträußchen geschmückt. Frau Lötsche und Frau Wisnarek waren schon im ersten Morgenlicht aufgestanden, hatten Birkenzweige hereingeholt und im Park die Veilchen gepflückt.
Als Dr. Scholten sie fragte: »Wie haben Sie das nur geschafft?«, antwortete Frau Lötsche nur: »Es muss doch irgendwie weitergehen.«
Frau Wisnarek sagte: »Trauerzeiten und festliche Tage, dazwischen bewegen wir uns ein Leben lang hin und her.«
Manchmal sagt die Wisnarek Dinge, die man nicht von der Hand weisen kann, dachte Dr. Scholten.
Einen Tag später hing dort, wo jeden Morgen der Speiseplan für den Tag ausgehängt wurde, eine neue Bekanntmachung. In knappen Worten wurde angeordnet, dass ab sofort nicht mehr Heil Hitler gesagt werden sollte. Heil Hitler, damit war seit Jahren täglich vielmals gegrüßt worden. Der Unterricht begann mit Heil Hitler, bei jedem Lehrerwechsel erneut Heil Hitler, in
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