So weit die Wolken ziehen
Hoffnungen verflüchtigten sich nicht im Wind wie der blaue Rauch der Zigaretten. Schon am Nachmittag des nächsten Tages kam die erste Lebensmittelzuteilung in der Schlossküche an.
»Eigentlich müssten wir uns bei den Leuten im Ort bedanken, weil sie uns mit ihren Spenden in der schlimmsten Hungerzeit geholfen haben«, sagte Frau Krase zu den Mädchen.
»So ähnlich wie damals beim Elternabend in Maria Quell?«, fragte Irmgard.
Frau Krase nickte und sagte: »Überlegt euch schon mal, was wir auf die Beine stellen können. Ich rede mit Dr. Scholten und den Lehrerinnen.«
Den Mädchen war bald klar, dass sie das Programm des Vorjahres nicht wiederholten konnten. Anna fiel es als Erster auf. »Können wir noch die Lieder singen, die uns damals begeistert haben?«, fragte sie.
»Das sind doch schöne Lieder«, sagte Irmgard.
»Trotzdem. Deutschland, heiliges Wort oder Heilig Vaterland in Gefahren, das geht einfach nicht. Wir müssten Lieder finden, die mit diesem Land, mit Österreich, zu tun haben.«
»Kennt ihr nicht In Östreich steht ein Kirschbaum weiß?«, fragte Erika Marvink. Alle schüttelten den Kopf. Erika holte ein Liederbuch aus ihrem Schrank und schlug den Text auf.
»In Östreich steht ein Kirschbaum weiß,
dem klagt ihr Leid mein Schatz.
Ihr Äuglein braun und brunnenklar,
lebt wohl, ins fremde Land ich fahr!
Ich reit zur Russenhatz.
Ich reit …«
Sie las nicht weiter. Alle schauten sie betreten an.
»Und das willst du singen?«, fragte Anna.
»Steht doch hier in Wir Mädel singen.«
»Ich singe das nicht. Nie mehr im Leben singe ich so was.«
Erika wurde rot, warf das Liederbuch auf den Boden und rannte hinaus.
Ausgerechnet Frau Lötsche war es, die einen Rat wusste. Auch sie schlug das Liederbuch Wir Mädel singen auf. Aber sie suchte Volkslieder aus, die allen gut gefielen. Mit Viel Freuden mit sich bringet die schöne Sommerzeit wollten sie beginnen und mit Mozarts Nachtigallenkanon sollte der Abend ausklingen.
Der 1. Juli, den sie für das Fest ausgesucht hatten, fiel auf einen Sonntag. Bis dahin waren es noch gut zwei Wochen. Es musste zu schaffen sein, kleine Sketche einzuüben, Gedichte auszuwählen, einen Gruppentanz vorzubereiten.
Aber dann fiel Lydia etwas auf. »Wisst ihr noch, wie gut es ausgesehen hat, als unser Chor in Maria Quell aufgetreten ist? Wir trugen alle unsere braunen Kletterwesten, die weißen Blusen und die dunklen Röcke und dazu das Halstuch umgebunden.«
Sie brauchte gar nicht weiterzureden. Anna sprach aus, was allen sofort klar geworden war: »Es geht nicht. Wir können nicht in unserem Räuberzivil vor die Leute treten. Lydia und andere auch haben schon auf dem Weg hierher ihr gesamtes Gepäck zurücklassen müssen. Seht euch doch an, wie wir herumlaufen. Ich jedenfalls stelle mich in den Lumpenklamotten nicht vor ein Publikum.«
Sie beschlossen, Dr. Scholten mitzuteilen, dass sie nicht bereit waren, bei dem festlichen Abend mitzumachen.
»Wer soll es dem Direktor sagen?«, fragte Irmgard. »Er wird wütend werden. Ich mach es auf keinen Fall.«
»Aber ich«, sagte Ruth und ging zur Tür.
Mit klopfendem Herzen stand sie vor seinem Zimmer. Sie zählte halblaut bis drei. Dann wollte sie klopfen und hineingehen. Aber sie musste noch mehrmals zählen, bis sie es endlich wagte. In dem kleinen Raum waren Dr. Scholten, Schwester Nora und Katalin.
»Sie müssen sich entscheiden, Katalin«, sagte Dr. Scholten ungehalten. »Irgendwann werden wir zurückkönnen nach Oberhausen. Was soll dann mit Ihnen werden?«
»Otto, keiner weiß, wann das sein wird«, wandte Schwester Nora ein. »Kommt Zeit, kommt Rat.«
Katalin hielt den Blick gesenkt. Trotzig sagte sie: »Ich geh nicht zu den Russen. Sind mit den Frauen wie … Krieg hat Wolf geweckt in Menschen. Als Soldaten nach Ungarn kamen, haben meine Mutter …« Katalin begann zu weinen.
»Nicht vor dem Kind«, herrschte Dr. Scholten sie an. »Was willst du?«, fragte er Ruth barsch.
»Ich soll Ihnen sagen, dass wir nicht auftreten. Ich meine bei dem Dankeschön-Abend.«
»Wer tritt nicht auf?«
»Na, wir Mädchen. Alle Mädchen. Wir machen nicht mit.«
»Das wäre ja noch schöner.« Der Direktor war empört. »Seit zwei Tagen tragt ihr die Einladungen in die Häuser, vor der Kirche hängt das Plakat, das ihr selbst gestaltet habt. Und nun wollt ihr alles abblasen?«
»Warum wollt ihr nicht auftreten?«, fragte Schwester Nora.
»Wegen der Kleider. Wir haben nichts Gescheites anzuziehen. Viele haben nur
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