So weit die Wolken ziehen
einen Instrumentalkreis.
Eines Tages sagte er: »Die Gemeinde hat zurzeit keinen Organisten. Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen. Er hat uns eingeladen, Pfingsten zu helfen, die Messe musikalisch zu gestalten. Außerdem hat er uns eine Überraschung angekündigt, aber er will nicht verraten, worum es sich handelt.«
An den Pfingsttagen kletterte das Thermometer auf fünfundzwanzig Grad. Als die Mädchen aus der Kirche kamen, waren auf dem Platz davor lange Tische und Bänke aufgestellt worden. Der Pfarrer hatte angeregt, dass die Gemeinde gemeinsam frühstücken sollte, und er hatte alle gebeten mitzubringen, was zu einem festlichen Frühstück nötig sei. Manche hatten sehr wenig beisteuern können, andere brachten ganze Körbe voll. Auf den Treppenstufen zur Kirche lag alles ausgebreitet: weißes Brot, gekochte Eier, Butter, Schinken und Marmelade, Rauchfleisch und Käse. Jeder konnte sich bedienen. Die Haushälterin des Pfarrers hatte große Kannen mit Bohnenkaffee bereitgestellt. Das war eine Spende der Amerikaner.
Das Kollegium und die Schülerinnen wurden eingeladen zuzugreifen. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Die Mädchen mischten sich unter die Einheimischen und suchten sich Plätze bei den Familien, von denen sie bei ihren Betteltouren nicht abgewiesen worden waren.
Der Pfarrer ging von Tisch zu Tisch und sagte mehrmals: »Spürt ihr es?«
»Die Sonne scheint sommerlich warm«, sagte eine Frau. »Tut meinem Rücken gut.«
»Ich spüre den echten Kaffee auf meiner Zunge«, schwärmte ein Mann. »Zum ersten Mal seit langer Zeit: starker schwarzer Bohnenkaffee.«
»Und ihr Mädchen?«, wollte der Pfarrer wissen.
»Ich bin rundum satt«, antwortete Irmgard. »Das habe ich schon ewig nicht mehr gespürt.«
Da nahm der Pfarrer einen Stuhl, ließ sich helfen hinaufzuklettern und rief: »Bestimmt habt ihr alle es irgendwie empfunden: Im leisen Wind, der mit dem frischen Laub der Bäume spielt, weht der Heilige Geist zu uns herab.«
Alle starrten ihn an. Keiner wusste, was er sagen sollte. Der Pfarrer wurde verlegen und kletterte mühsam wieder vom Stuhl herunter. Gerade hatte er noch fröhlich und feurig zu seiner Gemeinde gesprochen, jetzt wirkte er müde und alt.
Da rief Ruth laut über den Platz: »Die Sonne scheint warm, das leckere Frühstück, alle sind fröhlich, der Hunger ist weggewischt. Das ist es! Das ist es! Das ist der Heilige Geist!«
Die Leute nickten und lachten. Der Pfarrer sprach halblaut einen Psalmvers: »Im Munde der Kinder und Kleinen hast du dir Lob bereitet, den Menschen ins Angesicht.«
Es war schon fast Mittag, als ein dicker Bauer mit einem roten Gesicht und lustigen braunen Augen aufstand und sagte: »Ich bin dafür, dass die Kinder vom Schloss alles, was von diesem Frühstück übrig geblieben ist, einsammeln und mitnehmen dürfen.«
Der Jubel der Mädchen übertönte manch hämische Bemerkung, die an den Tischen geflüstert wurde; denn der Bauer, galt im Allgemeinen als ein rechter Geizkragen. »Der Heilige Geist weht, wo er will«, murmelte der Pfarrer.
Ab Mitte Juni teilte die neue Verwaltung den Mädchen im Schloss regelmäßig Lebensmittel zu. Das Leben von der Hand in den Mund war endlich zu Ende. Zwar reichte es nicht, um aus dem Vollen zu schöpfen, aber die ärgste Hungerzeit war vorüber. Dr. Scholten verriet nicht einmal Schwester Nora, wie er diese Entwicklung befördert hatte. Anfang Juni waren auf dem Amt nämlich Raucherkarten für die Erwachsenen ausgegeben worden. Er hatte sich aufgemacht und sie für alle im Haus selbst abgeholt. Am Tag danach stellte er sich in aller Frühe vor einem Tabakladen in die Warteschlange. Er hatte Glück, denn gegen zehn Uhr wurden tatsächlich Tabakwaren geliefert. Er kaufte die gesamte Zuteilung für Theresienruh. Mit allen Zigaretten, die er bekommen hatte, ging er jedoch nicht ins Schloss zurück, sondern stellte den vollen Karton in der Verwaltung auf den Tisch des Bürgermeisters.
Der schaute verdutzt, als Dr. Scholten zu ihm sagte: »Rauchen auf leerem Magen ist gefährlich. Wir in Theresienruh haben seit Tagen knurrende Mägen. Wir möchten Ihnen und Ihren Leuten deshalb, sozusagen zum Selbstschutz, unsere Zigaretten überlassen.«
Der Bügermeister lachte und sagte: »Leider gibt es bei uns viele starke Raucher, die nach Zigaretten lechzen. Mich eingeschlossen. Wir sind Ihnen dankbar für das überraschende Geschenk und werden uns erkenntlich zeigen.«
Mehr wurde nicht gesagt. Aber Dr. Scholtens
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