So weit die Wolken ziehen
willst du das wissen?«
»Schauen Sie sich die Gleise an, Frau Brüggen. Die hier direkt am Bahnsteig sind blank. Die dahinter sind rostig. Nur wenn Züge fahren, sind die Gleise blank.«
»Hmm«, machte Frau Brüggen.
»Außerdem steht es auch auf dem Fahrplan, dass dreimal am Tag ein Zug Richtung Linz fährt.«
»Dann hätten wir ja gar keine Lastwagen gebraucht. Bequem ist es sowieso nicht auf den Ladeflächen.«
»Vielleicht sind die Lkws doch nötig, Frau Brüggen. Denn Hartheim ist als Haltepunkt auf dem Fahrplan nicht aufgeführt.«
»Wer weiß, wo wir unsere nächste Zeit verbringen müssen.« Frau Brüggen seufzte. »Ich komme mir schon vor wie eine, die im Land herumstreicht und keinen festen Wohnsitz hat.«
»Ich möchte Sie noch etwas fragen, Frau Brüggen. Katalin hat so merkwürdige Andeutungen über das Schloss gemacht, Totenhaus oder so ähnlich. Halten Sie es für möglich, dass Menschen, Behinderte zum Beispiel, in Deutschland einfach umgebracht worden sind?«
Frau Brüggen zögerte. »Ich habe davon gewusst«, sagte sie schließlich. »Bischof Galen von Münster hat im Sommer 1941 einen Hirtenbrief in allen Kirchen unseres Bistums verlesen lassen. Darin hat er gegen die Tötung solcher Menschen scharf protestiert und sie als Mord bezeichnet.«
»Warum habe ich nichts davon gewusst?«, fragte Anna.
»Wahrscheinlich haben sich deine Eltern wie die meisten anderen auch gehütet, solche Sachen vor den Kindern zu erwähnen. Ein unbedachtes Wort am falschen Ort hätte für die ganze Familie gefährlich werden können.«
»Ob Katalin deshalb das Schloss Hartheim ein Totenhaus genannt hat?«
»Das weiß ich nicht, Anna. Aber bitte, sag bei den anderen nicht, was ich dir erzählt habe. Die Angst der Mädchen vor jedem neuen Tag ist sowieso schon groß genug.«
Lydia erschien auf dem Bahnsteig und rief: »Anna, wenn du noch von der heißen Brühe haben willst, musst du dich beeilen.«
Frau Sonne hatte die Mädchen gebeten, ihr später die leeren Kannen hinauf in ihre Wohnung zu schaffen. Lydia und Ruth wollten sie zurückbringen.
»Komm, du faules Stück«, sagte Lydia zu Anna. »Lass uns nicht alles allein machen. Da steht noch eine Kanne.«
Frau Sonne saß in einem Ohrensessel und las. Das Zimmer war vollgestopft mit Büchern.
»So viel zu lesen?«, fragte Ruth neugierig.
»Mein Mann ist ein Büchernarr«, antwortete Frau Sonne. »Im Augenblick werden ihm seine Bücher fehlen. Ich glaube kaum, dass er in der russischen Gefangenschaft lesen darf.«
»Und Sie? Lesen Sie auch gern?«
»Siehst du das nicht? Meine Mutter hat mich schon früh gewarnt und gesagt: Sonnenkind, hör auf mit dem Lesen. Wenn dich der Lesezauber nämlich einmal gepackt hat, dann lässt er dich nicht wieder los.«
»Haben Sie auch schon mal etwas über Schloss Hartheim gelesen?«, fragte Anna.
Frau Sonne schaute Anna überrascht an und antwortete: »Gelesen nicht, Kind. Aber es wird so allerhand erzählt.«
»Warum hat die Ungarin das Schloss Totenhaus genannt, Frau Sonne?«
»Nun, ich will keine Gerüchte verbreiten. Aber was ich selbst gesehen habe, kann ich dir sagen. Es sind hier mehrmals merkwürdige Busse vorbeigekommen. Die Scheiben waren mit einer grünlichen Farbe gestrichen und undurchsichtig. Die sollen nach Schloss Hartheim gefahren sein. Bei der Hinfahrt waren sie voll, das hab ich selbst gesehen. Einmal hat ein Bus vor unserer Station gehalten. Die Türen haben aufgestanden. Bis auf den letzten Platz besetzt. Nach ein paar Stunden fuhren die Busse leer zurück. Nach Mauthausen, wurde gemunkelt. Aber es wird viel geschwätzt, und weil ich nichts Genaues weiß, schweig ich jetzt lieber.«
»Aber, Frau Sonne …«, sagte Anna.
»Schluss jetzt, Kinder. Ab mit euch nach unten. Ihr stört mich beim Lesen.«
Lydia und Anna hatten sich nebeneinander auf dem Holzboden ausgestreckt. Hinter ihnen stand die Bank, auf der Katalin mit ihrem Kind saß. Das Licht war, bis auf eine schwache Birne unter der Decke, ausgeschaltet worden. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. Die meisten waren erschöpft eingeschlafen. Lydia hatte in Theresienruh ihre Soldatenstiefel wieder hervorgeholt. »Ich kann weite Wege besser in den Stiefeln als in den Holzkläpperchen laufen«, hatte sie gesagt. Aber die Stiefel hatten wochenlang unbenutzt im Keller gestanden. Das Leder war hart geworden. Lydia hatte die Zähne zusammengebissen und sich nicht anmerken lassen, dass ihr schon bald die Füße brannten.
»Willst du die
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