So weit die Wolken ziehen
darüber hinweg. Schwester Nora war in die Rolle von Zarah Leander geschlüpft, obwohl sie ihre Wette mit den großen Mädchen nicht verloren hatte. Sie hatte eine schwarze Perücke aufgesetzt und ihren Mund tiefrot geschminkt. Bei dem Lied Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn klang ihre Stimme dem Original so ähnlich, dass einige Eltern den Verdacht äußerten, die Schwester würde lediglich ihren Mund bewegen, der Ton aber käme wahrscheinlich von einer Schallplatte. Tosender Applaus und Zugabe-Rufe veranlassten die falsche Zarah, ein zweites Lied zu singen. Tief und leidenschaftlich sang sie: Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen. Es gibt so viele auf dieser Welt, ich liebe jeden, der mir gefällt!
Pater Lukas flüsterte: »Na, na, das geht doch nicht«, und auch Direktor Aumann rührte keine Hand, doch das fiel nicht weiter auf.
Auch das Märchenspiel Des Kaisers neue Kleider und selbst die vaterländischen Lieder Deutschland, heiliges Wort und Heilig Vaterland! In Gefahren, die Frau Lötsche mit dem Chor einstudiert hatte, wurden eifrig beklatscht. Die Mädchen sangen allerdings eine etwas verfremdete Fassung, sie hatten die zweite Zeile von Heilig Vaterland! In Gefahren auf sich selbst bezogen. Aus deine Söhne sich um dich scharen war deine Töchter … g eworden.
Schließlich, nach fast drei Stunden Programm, sang Dr. Scholten: En Köln am Rhing ben ich gebore und die letzte Zeile ich mööch zo Foß no Kölle jon wurde wehmütig und leise von allen mitgesungen. Selbst Frau Zitzelshauser, die sich in der hintersten Reihe dazugesetzt hatte, summte mit.
Für den letzten Vormittag war kein allgemeines Programm mehr vorgesehen. Der Direktor hatte den Mädchen schulfrei gegeben, damit sie die letzten Stunden vor der Abfahrt des Zuges mit ihren Eltern verbringen konnten. Pater Martin bot an, dass nach dem Frühstück gegen neun Uhr Gelegenheit sei, die Kirche und den Gnadenort der Marienquelle zu besuchen.
Am Abschiedsmorgen hatte Frau Lötsche ein gemeinsames Singen angeboten. Die meisten Eltern kamen jedoch, sehr zum Verdruss von Frau Lötsche, der Einladung des Paters nach.
Viele Kerzen wurden an diesem Morgen angezündet. Sie waren sichtbare Zeichen für die tausend Nöte und Sorgen, die auf allen lasteten.
Auch Frau Zarski ging mit Irmgard und Ruth zur Wallfahrtskirche hinauf. Ein anderes Mädchen eilte hinter ihnen her und sagte: »Frau Zarski, da unten ist ein Junge. Der behauptet, er heißt Albert Zarski. Der Direktor hat mich geschickt. Sie sollen schnell ins Hotel kommen.«
Frau Zarski bekam einen Schreck. Mit schnellen Schritten eilte sie den Weg zum Quellenhof zurück. Ihre Töchter liefen neben ihr her.
»Habt ihr davon gewusst?«, fragte Frau Zarski.
Irmgard antwortete: »Bestimmt nicht, Mutter.«
»Woher weiß Albert denn, dass ich hier bei euch bin?«
»Ich hab’s ihm im letzten Brief geschrieben.«
Ruth sagte: »Ich auch. Vorige Woche hab ich eine Ansichtskarte geschickt. Da stand es drauf. War das schlimm, Mutter?«
»Nein, nein. Wie kommt er nur hierher?«
Frau Zarski riss die Tür zur Eingangshalle auf. Da stand Albert allein in dem großen Raum. Er trug die schwarze Winteruniform der HJ. Die Mutter lief auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Dann ließ sie ihn los und fragte: »Junge, Albert, was ist los? Ist was passiert? Wie bist du hierhergekommen? Bist du beurlaubt worden?«
Er lachte über ihren Eifer.
Sie fuhr mit den Fingern durch seine kurz geschorenen Locken. »Also red schon«, drängte sie ihn.
»Mit dem Zug bin ich gekommen, Mutter. Ist ja zu machen über Wien. Ich bin als Begleiter für einen zehnjährigen Jungen aus unserem Lager ausgewählt worden. Er durfte nach Oberhausen zurück, weil seine große Schwester bei einem Angriff umgekommen ist. Zehn Tage darf er bleiben. Dann wird er zurückgeholt. Ich hab ihn bis Osterfeld gebracht und bin dann gleich wieder zum Bahnhof. Von Irmgard und Ruth wusste ich ja, dass du hier bist.«
»Aber du solltest eigentlich pünktlich zurück in eurem Lager sein, oder?«
»Schon«, antwortete er und lachte verschmitzt. Frau Zarski fühlte sich an das Lachen ihres Mannes erinnert. So hatte auch er ausgesehen, wenn er nach Feierabend nicht wie sonst üblich gleich nach Hause gekommen war und mit seinen Arbeitskollegen noch in einer Wirtschaft versackt war. Das gleiche Funkeln in den Augen, das gleiche Lachen.
»Also, was ist, Albert?«
»Scheinst dich ja nicht zu freuen, deinen Sohn zu
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