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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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gespannt. So ein hohes Tier hatte uns noch nie besucht. Er kam in HJ-Uniform herein. Wir sahen es gleich, ihm fehlte der linke Arm. Er hob den leeren Uniformärmel, ließ ihn wieder fallen und zeigte auf das Eiserne Kreuz Erster Klasse an seiner Brust. Er redete von der Ostfront und von Napoleon. Der wäre damals an der Beresina vernichtend geschlagen worden. Seine Feinde hätten sich taktisch klug verhalten. Napoleon wäre von den Russen immer weiter in das Land hineingelockt worden. Genau eine solche Falle würde unser Führer den Russen nun selbst stellen.«
    »Das hat er wirklich zu euch gesagt, Albert?«, fragte die Mutter.
    »Sicher. Aber das war noch nicht alles. Für den letzten großen Kampf hätte das Reich jetzt jede Hand nötig, die ein Gewehr halten kann. Junge, mutige Soldaten, hat er gesagt. Dann stimmte der Lagerführer das Lied an: Der Jüngste zählt kaum fünfzehn Jahr, doch er scheute nicht den Tod fürs Vaterland. Dann redete wieder der Bannführer: Die beste Kampftruppe des Führers wäre die Waffen-SS. Es wäre eine Ehre, in diese Elitetruppe aufgenommen zu werden.«
    »Das ist doch …«, unterbrach die Mutter ihn.
    »Es geht noch weiter, Mama. Er zog eine Liste aus seinem Ärmelaufschlag und forderte uns auf zu unterschreiben. Für zwölf Jahre dürften wir dann Soldaten in einer SS-Division sein. Wir würden helfen, den Endsieg für unser deutsches Vaterland zu erringen. Oder will jemand von euch nicht unterschreiben?, hat er dann gefragt. Horst Ziegelski ist aufgestanden. Sein Hocker kippte nach hinten auf den Boden.
    Ich darf nichts unterschreiben. Ich muss vorher meine Eltern fragen , hat er gesagt.
    Der Bannführer schrie ihn an: So! Du willst also wirklich den Führer verraten! Ich sage dir, wir sprechen uns noch. Also, komm schon her und unterschreibe.
    Horst sagte leise: Nein. Seine Stimme zitterte dabei.
    Der Bannführer drehte sich zu dem Tisch um und legte den Füller neben das Formular. Die aus der ersten Reihe standen auf. Vier, fünf drängten sich um den Tisch. Plötzlich wurde die Kerze umgestoßen. Es war stockdunkel.
    Wer war das?, schrie der Bannführer.
    Was er sonst noch sagte, ging im Lärm unter. Hocker stürzten um, Schreie gellten durch den Raum. Ich tastete mich an der Wand entlang zum Lichtschalter, weil ich die Lampe einschalten wollte. Doch das klappte nicht. Als das Licht endlich wieder aufleuchtete, hatten fast alle den Tagesraum verlassen. Zwei aus unserer Stube lagen zusammengekrümmt am Boden. Sie waren niedergerannt worden. Ein paar Kameraden und ich haben ihnen in ihre Betten geholfen. Sie hatten wohl einen Schock. Außer Schrammen und Abschürfungen waren sie jedenfalls nicht verletzt.«
    »Und der Bannführer?«
    »Ach, Mutter, der hatte doch nur wenig Zeit. Den hab ich nicht mehr gesehen.«
    »Und wie ging es weiter?«
    »Wir schlafen zu zwölft auf unserer Stube. Bald waren alle in ihre Kojen gekrochen. Ich war immer noch aufgeregt und konnte nicht einschlafen. Auf einmal hörte ich Schritte und Getuschel vor unserer Tür. Ich sprang auf und schloss die Tür ab. Von draußen versuchten sie, die Tür aufzustoßen. Aber das gelang ihnen nicht. Sie riefen: Gebt uns den Ziegelski raus. Das feige Schwein hat eine Abreibung verdient. Inzwischen hatte ich das Licht eingeschaltet. Alle waren wach und standen neben ihren Betten. Wir waren uns schnell einig: Die kommen hier nicht rein. Sie traten von außen gegen die Tür, wir stemmten uns von innen dagegen. Das Türblatt wölbte sich schon unter dem Druck. Wir schoben ein Spind davor. Ich geh raus, sagte Horst. Seine Stimme schnappte über. Dann habt ihr Ruhe. Das hat uns erst recht dazu gebracht, die Tür verschlossen zu halten. Plötzlich wurde es still auf dem Flur. Wir dachten, es wäre vorbei. Da huschten Schatten vor unserem Fenster vorbei. Einer versuchte, es aufzudrücken. Alfred öffnete einen Fensterflügel und schrie ins Dunkel hinaus: Der Erste, der hier einsteigt, dem schlag ich den Hocker über den Schädel. Als Antwort warfen sie Steine. Eine Scheibe zersplitterte. Dann hörten wir die Stimme des Lagerführers und sie zogen ab. Wir beschlossen, Wache zu halten. Immer zu zweit eine Stunde. Ich lag noch lange wach. Am nächsten Morgen wurden wir früh geweckt, wir sollten zum Flaggenappell antreten. Wir meldeten dem Lagerführer, dass in unserer Stube ein Fenster eingeworfen worden war. Er fragte, wer das gemacht hätte, aber keiner meldete sich. Wir sollten die Kosten für die neue Scheibe selbst

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