So weit die Wolken ziehen
Anna rief Schwester Nora. Die schaute Lydia nur kurz an und sagte: »Wie lange hast du schon diese Flecken im Gesicht?«
»Flecken?«, fragte Lydia.
»Zeig mir deine Zunge.«
Sie sah es auf den ersten Blick. »Himbeerzunge«, sagte sie. »Du hast Scharlach. Ich bringe dich in die Krankenstube. Aber dort wirst du wohl kaum bleiben können. Scharlach ist ansteckend. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben: Du musst ins Krankenhaus in die Stadt.«
»Das kenn ich ja schon.« Lydia zeigte auf ihren Arm.
»Bist du nicht traurig?«, fragte Anna.
»Doch, ausgerechnet jetzt, wo wir Ferien haben.«
»Hat auch sein Gutes. Wir können dich dann öfter besuchen«, versuchte Irmgard, sie zu trösten.
Lydia blieb nicht lange einsam auf der Isolierstation. In den folgenden Tagen wurden fünf weitere Mädchen aus dem Haus mit Scharlach ins Hospital eingeliefert.
Ende August gab es im Quellenhof einige Veränderungen. Mehrere Lehrerinnen waren versetzt worden. Teils hatten sie sich darum bemüht, in der Nähe von Verwandten eingesetzt zu werden, teils hatte die Schulbehörde sie gegen ihren Willen an eine andere Schule abgeordnet. Eine junge Deutschlehrerin war tagelang mit rot geweinten Augen herumgelaufen. Sie sollte nach Konitz, einer kleinen Stadt irgendwo in Westpreußen, an eine Oberschule geschickt werden.
Dr. Scholten sprach ihr Mut zu. »Ich bin 1938 in den Sommerferien einmal in der Nähe von Konitz gewesen und habe meine Verwandten in einem Dorf in der Tuchler Heide besucht. Damals gehörte das Gebiet noch zu Polen. Sie können sich kaum eine schönere Heidelandschaft vorstellen.« Er schwärmte von seinem Aufenthalt, erzählte, dass er dort angeln gelernt habe und dass ihm einmal sogar ein wirklich großer Hecht an den Haken gegangen sei. Etwas schwierig sei für ihn nur gewesen, dass nur wenige dort Deutsch verstanden hätten.
»Die sprechen dort Polnisch?«, fragte die Lehrerin entsetzt. »Ich kenne kein einziges polnisches Wort.«
»Sie werden Deutsch unterrichten. Ich nehme an, dass viele gebildete Polen gut Deutsch sprechen, und bestimmt werden sie es begrüßen, dass ihre Kinder Deutsch lernen.«
Dr. Scholten bemerkte, dass er, statt Trost zu spenden, alles nur noch schlimmer gemacht hatte. »Übrigens«, sagte er, »eine Schülerin aus meiner Klasse, Anna Mohrmann, spricht, glaube ich, ein wenig Polnisch. Jedenfalls hat sie sich mit der Fremdarbeiterin aus Polen, die hier in der Küche gearbeitet hat, verständigen können. Nützen Sie doch die Tage bis zu Ihrer Abfahrt, Frau Kollegin. Lassen sie sich von Anna wenigstens ein paar Brocken Polnisch beibringen.«
Die Lehrerin ging in die Stube, in der Anna untergebracht war, und fragte: »Wer ist Anna Mohrmann?«
Anna hatte keinen Unterricht bei ihr gehabt. Die Lehrerin wohnte überdies in einem Privatquartier und nicht im Quellenhof. Warum fragte sie nach ihr?
»Ich bin Anna Mohrmann«, sagte sie schließlich.
»Ich habe gehört, dass du ein bisschen Polnisch sprechen kannst.«
»Aber nur ein kleines bisschen. Eigentlich nur ein paar Wörter.«
»Ein wenig Polnisch ist bedeutend mehr als gar kein Polnisch. Würdest du mir diese Wörter beibringen?«
Anna versuchte vorsichtig, ihr die Bitte abzuschlagen. »Mit Büchern geht das bestimmt einfacher.«
»Die zu beschaffen, dazu fehlt mir die Zeit. Ich bin noch vierzehn Tage hier in Maria Quell. Wenn du mich jeden Tag eine Stunde unterrichtest, ist das eine willkommene Hilfe für mich.«
»Ich kann es ja versuchen«, stimmte Anna zu. »Wann sollen wir damit anfangen?«
»Am besten morgen, wenn ihr gefrühstückt habt. Kannst du um neun Uhr bei mir sein? Ich wohne im Gasthof Talblick.«
»Ich werde pünktlich sein.«
Die Lehrerin nickte ihr zu und ging hinaus.
Am nächsten Tag nach dem Mittagessen fuhren Anna und Irmgard in die Stadt. Sie wollten Lydia im Krankenhaus besuchen.
Der Mittagszug war nicht voll besetzt und sie fanden ein leeres Abteil im letzten Waggon. Irmgard fragte Anna: »Woher kannst du Polnisch? Heißt ihr eigentlich Mohrmanski und geht sonntags in die polnische Messe nach Osterfeld?«
»Quatsch«, sagte Anna kurz angebunden.
»Aber von irgendwem musst du es doch gelernt haben.«
»Ich will es dir nicht sagen. Und damit basta.«
Irmgard kannte Anna gut genug, um zu wissen, dass jede weitere Frage vergebens sein würde. Sie hatte sogar ein bisschen Verständnis für Annas Verschlossenheit. Oft genug war sie selbst wegen ihres Namens Zarski gehänselt worden . Polnische Gans
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