Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
Vom Netzwerk:
kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser, verbrecherischer und dummer Offiziere. Die Rede schloss mit der Ankündigung, dass diesmal so abgerechnet werde, wie es die Nationalsozialisten gewohnt seien.
    »Ja«, sagte Dr. Scholten, »es ist wirklich wie eine wunderbare Fügung, dass er mit dem Leben davongekommen ist.«
    Am nächsten Morgen wurde bekannt gegeben, dass sich der Lehrkörper und die Schülerinnen am Nachmittag zu einer Kundgebung im Dorf, und zwar im Saal der Gaststätte Zum roten Hirschen einzufinden hätten. Ein Parteigenosse aus der Stadt habe sich als Redner angesagt. Die Mädchen, die eine Uniform besaßen, hatten sie angezogen, wie Heidrun Czech es befohlen hatte. Die anderen trugen eine weiße Bluse und einen dunklen Rock. In Reih und Glied marschierten sie zum Dorf hinunter. Als sie die ersten Häuser erreichten, wurde das Lied Wildgänse rauschen durch die Nacht … angestimmt.
    Nach der letzten Zeile, die Welt ist voller Morden, flüsterte Dr. Scholten leise Schwester Nora zu: »Selten war das Lied so aktuell.«
    Die Schwester sah ihn schweigend an. Bei Otto weiß man nie, meint er Hitler oder die vielen, die seiner Rache zum Opfer fallen, dachte sie.
    Für die Mädchen vom Quellenhof waren die ersten Reihen frei gehalten worden. Pünktlich um fünfzehn Uhr begann die Kundgebung. Einige SA-Leute führten den Parteigenossen aus der Stadt zum Rednerpult.
    Die Uniformjacke des Gastes spannte sich über seinem Bauch. Das breite braune Lederkoppel schnürte ihn wohl sehr ein, denn es wurde im Laufe der Ansprache zweimal um ein Loch weiter gestellt. Mit durchdringender, kehliger Stimme wiederholte er das, was Hitler in seiner Mitternachtsrede schon gesagt hatte. Er malte allerdings das »ungeheuerliche Verbrechen« lang und breit aus. Der Attentäter, »dieser Verräter Stauffenberg«, sei füsiliert worden. Für seine Kumpane sei der Strick schon gedreht, mit dem sie gehenkt würden. Auch er bemühte wieder die Vorsehung, die auf geradezu schicksalhafte Weise jede Verletzung des Führers verhindert habe. Jetzt sei doch wohl auch dem letzten Deutschen klar geworden: Deutschland brauche den Führer Adolf Hitler. Er schloss mit der Aufforderung, einen Treueschwur auf Führer und Volk zu leisten. Plötzlich geriet er ins Stocken, weil ihm die richtigen Worte offensichtlich nicht einfielen, die gesprochen werden sollten. Sofort sprang Frau Lötsche auf und rief: »Wir singen Wo wir stehen, steht die Treue.« Den Mädchen war das Lied von den Flaggenappellen her geläufig. Nur wenigen Einheimischen jedoch schien der Text bekannt zu sein und der »Treueschwur« fiel in dem großen Saal ziemlich dünn aus. Der Redner fand das wohl auch. Er streckte den Arm zum Hitlergruß aus und brüllte dreimal ins Mikrofon: »Sieg …«, und wie auf Kommando antworteten alle: »Heil!«
    »Sieg … Heil, Sieg … Heil!«
    Die größeren Mädchen machten in der ersten Ferienwoche mit Heidrun Czech eine Bergwanderung. Die LMF zog ein finsteres Gesicht, als sie auch Ruth mit der umgehängten Provianttasche in der Wandergruppe entdeckte.
    »Das ist heute kein Weg für Kinder«, sagte sie. »Du machst bestimmt schlapp und fällst uns dann zur Last.«
    »Ich gehöre zur Stube 215. Und beim Laufen werde ich niemals müde.«
    Anna bestätigte das. »Ruth ist wirklich zäh.«
    Die LMF wandte sich unwirsch ab.
    Anna fragte: »Heide, werden wir auf unserem Weg vielleicht blühenden Almrausch finden?«
    »Kann sein«, antwortete sie. »Um diese Jahreszeit müsste es so weit sein. Aber warum willst du das wissen?«
    »Ich sammle blühende Pflanzen.«
    Anna holte eine Blechschachtel aus ihrem Brotbeutel. »In diese Dose stecke ich ein paar von den Blüten, die ich noch nicht habe. Im Haus werden sie zwischen Löschblätter gelegt und gepresst.«
    »Ja, Anna so macht man es. Damit schmückst du sicher die Briefe, die du deinen Eltern schreibst.«
    »Manchmal. Aber Frau Brüggen hat uns auf die Idee gebracht, dass man sich auch eine Pflanzensammlung anlegen kann. Ich klebe die getrockneten Blüten in ein Sammelheft und schreibe den Namen der Pflanze dazu.«
    »Aha. Wenn du Almrausch findest, schreibst du also Almrausch, Rhododendron ferrugineum, August 1944.«
    Anna schaute sie überrascht an. »Wie? Du auch?«
    Heidrun Czech sagte: »Ich wollte Biologin werden, nachdem ich meine Matura gemacht hatte. Ich will es eigentlich immer noch, aber die Zeiten sind nicht so. Du siehst ja, wo ich gelandet bin.«
    »Bist du traurig

Weitere Kostenlose Bücher