So weit die Wolken ziehen
aus, um den Winter durchzuheizen.«
Die Mädchen hatten zwei Bügelsägen, Hämmer und Stricke vom Haus mitgenommen.
»Wenn ihr Nägel braucht, fragt Pater Lukas«, riet Frau Zitzelshauser. »Der hebt, wenn er unterwegs ist, jeden rostigen Nagel auf, auch wenn er noch so krumm ist.«
Der Pater holte eine Blechdose voller alter Nägel aus der Werkstatt, aber keiner davon war verbogen. Er hatte sie in der Klosterschmiede sorgfältig gerade geschlagen. Als er erfuhr, was die Mädchen vorhatten, sagte er: »Baumhütten also. Wenn ihr genug von euren Häusern habt, dann zieht die Nägel aus dem Holz und bringt sie mir zurück. Ich war vor Jahren mal in Jerusalem. Die Juden feiern auch jedes Jahr ein Fest in Hütten, die sie aus Zweigen gebaut haben, das Laubhüttenfest. Sie erinnern sich daran, dass Gott ihr Volk einmal aus der Gefangenschaft von Ägypten herausgeführt hat. Das war ein weiter und beschwerlicher Weg bis in ihre Heimat. Unterwegs haben sie oft in Hütten aus Zweigen gewohnt.«
»Die Juden, die sind doch unser Untergang, Pater«, sagte Ruth.
»Das sind Menschen, Kind, Menschen sind das.«
Die Stunden im Wald vergingen viel zu schnell. Später, als die Sonne schon tief und rot dicht über dem Berg hing, saßen die Mädchen im Speisesaal und warteten auf das Abendessen. Außer dem erlaubten Flüstern war nichts zu hören. Auf einmal sprang Irmgard mit einem spitzen Schrei auf. Ihr Stuhl polterte zu Boden. Sie hüpfte auf einem Bein und rief: »Ich glaube, mich hat was gestochen.«
Frau Krase lief vom Lehrertisch zu Irmgard hinüber. »Was ist? Warum machst du so einen Zirkus?«
Sie stellte den Stuhl wieder auf und setzte sich. »Du kannst einem aber auch einen Schreck einjagen. Zeig her.«
An Irmgards Wade entdeckte sie einen Bienenstich.
»Ein harmloser Stich! Und deswegen machst du hier im Saal alle verrückt. Geh nach dem Essen zu Schwester Nora. Die wird den winzigen Stachel herausziehen.«
»Aber es tut weh.«
»Hör auf zu jammern. Und morgen kannst du dir mal überlegen, wie man sich bei einem solchen Piks benimmt. Du nimmst dir dann das Putzzeug und säuberst zur Strafe für dein Geschrei die Klos.«
Beim Hinausgehen flüsterte Irmgard Anna zu: »Die Krase ist mit ihren Schikanen ja noch schlimmer als die Czech.«
»Stimmt. Dein Schrei ging einem aber auch wirklich durch Mark und Bein.«
Die Schwester packte den Stachel mit einer kleinen Pinzette, zog ihn heraus und legte ihn auf ein weißes Stück Papier. Irmgard spürte kaum etwas davon.
»Da haben wir das winzige Ding. Lass dich demnächst lieber von einer Wespe stechen. Die kann ihren Stachel selbst wieder herausziehen.«
»Lieber lasse ich mich überhaupt nicht mehr stechen«, maulte Irmgard.
Die Mädchen vermissten den alten grauköpfigen Bartel, der alle paar Tage durch Maria Quell gelaufen war und die neuen Bekanntmachungen des Ortsgruppenleiters in den drei Schaukästen des Orts aushängen musste. Einer dieser Schaukästen hing schräg gegenüber vom Quellenhof vor der Poststelle. Die Mädchen fragten den Bartel, wenn sie ihn trafen: »Bartel, was gibt es Neues?«
Meist machte er eine wegwerfende Handbewegung. Manchmal aber sagte er auch: »Lest’s halt. Heut lohnt sich’s.«
Dann liefen sie hinüber und schauten die Aushänge in dem Kasten an. Dr. Scholten hatte irgendwann einmal vorsichtig angedeutet, dass dort längst nicht alles Wichtige zu lesen sei. Als Anna ihn einmal selbst dort antraf, fragte sie: »Was, Herr Doktor, wird uns denn heute nicht mitgeteilt?«
Er schaute sich um, und als er niemanden außer Anna sah, sagte er: »Zum Beispiel, dass seit Anfang des Monats die sowjetischen Truppen schnell in Ungarn vorankommen. Schau mal im Atlas nach. Sicher merkst du dann, dass sie uns allmählich auf den Pelz rücken …« Er hielt inne und verstummte.
»Da, schau«, sagte er schließlich und tippte auf den Schaukasten. »Jetzt müssen alle Männer zwischen sechzehn und sechzig Jahren zum Volkssturm. Der Führer meint sicher, wenn es darum geht, den Endsieg zu erringen, dann müssen alle mit dabei sein.«
»Aber die V2, das ist doch eine von Hitlers Wunderwaffen. Die wird bestimmt …«
Er schaute Anna nur traurig an und dachte, was machen wir nur mit unserer Jugend. Dann ging er in den Quellenhof zurück.
Zwei Tage später tauchte statt Bartel ein etwa fünfzehnjähriger Junge auf und hängte die Bekanntmachungen aus.
»Ist der Bartel krank?«, fragte Ruth.
»Der Bartel, das ist jetzt ein wichtiger Mensch«,
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