Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
Vom Netzwerk:
veranlasst, ihre Mädchen im KLV-Lager Maria Quell anzumelden. Auch hofften sie, dass nach dem Krieg die Schule in Oberhausen wieder geöffnet würde.
    Frau Brüggen war erstaunt, als der Direktor gerade sie in der neuen Klasse einsetzen wollte. Sie fragte ihn nach dem Grund.
    »Frau Brüggen«, antwortete der Direktor, »es ist gut, wenn eine erfahrene Lehrerin sich der Kleinen annimmt. Unsere neuen Kolleginnen beginnen gerade erst ihren Dienst. Sie können ihre ersten Unterrichtserfahrungen am besten in den anderen Klassen der Unterstufe machen. Überdies ist es auch für die neue Klasse günstig, wenn die Klassenlehrerin die Abläufe hier im Haus bereits kennt.«
    »Aber Sie wissen doch, dass es mit Ruth Zarski Schwierigkeiten geben könnte. Weil ich ja …«
    »Lassen wir das, Frau Kollegin. Sie haben das ja bisher auch zufriedenstellend geregelt. Ich sehe keine Probleme. Was mir mehr Sorgen macht, sind zwei andere Dinge. Erstens können wir mit den zur Verfügung stehenden Lehrern jede Klasse vorläufig nur dreimal fünfundvierzig Minuten am Tag unterrichten. Zweitens gibt es eine Anordnung, die mich wirklich überrascht hat. Unsere Oberklasse, die eigentlich erst im nächsten Jahr ihr vorgezogenes Abitur ablegen sollte, muss schon im Herbst entlassen werden. Ohne dass sie ein Examen abgelegt haben, wird den Mädchen eine Art Reifenachweis ausgestellt. Sie werden mit einem Zeugnis weggeschickt, in das ein Reifevermerk geschrieben wird. Was immer man davon halten soll, Vorschrift ist Vorschrift. Die Mädchen werden in den Reichsarbeitsdienst einberufen und von dort aus kriegswichtigen Diensten zugeführt. Jede Diskussion ist zwecklos. Ich bitte Sie, das zu respektieren.«
    »Unter den Schülerinnen ist ein Teil noch nicht einmal siebzehn Jahre alt«, sagte Dr. Scholten.
    Der neue Kollege meldete sich zu Wort: »Die Altersgrenzen bedeuten heute wenig. Das sehen Sie doch an mir. Ich werde kurz vor Jahresende siebenundsechzig. Die besondere Lage unseres Vaterlandes erfordert von der Reichsregierung eben besondere Maßnahmen.«
    Als sich die Neuigkeit unter den Schülerinnen herumsprach, sagte Lydia zu den anderen in der Stube: »Ich weiß nicht, ob ihr es gemerkt habt, aber wenn das so weitergeht, werden wir schließlich noch selbst die Oberklasse sein.«

Vierter Teil
    Ruth ging am ersten Tag des neuen Schuljahres zum letzten Mal zur Dorfschule hinunter und meldete sich ab. Frau John hielt sie nach dem Unterrichtsschluss noch im Klassenzimmer zurück.
    »Du warst eine fleißige Schülerin, Ruth. Ich möchte dir zur Erinnerung an deine Zeit hier bei uns ein kleines Geschenk machen.«
    Sie nahm ein Foto aus ihrer Tasche. Die Lehrerin hatte in der Wallfahrtskirche eine Krücke aufgenommen, die dort jemand vor Zeiten zum Dank für die Überwindung seiner Krankheit an die Wand gehängt hatte. Ruth erinnerte sich, sie gesehen zu haben. Auf die Rückseite des Fotos hatte Frau John geschrieben: Ich wünsche dir eine »Krücke«, wenn du Hilfe nötig hast, und hoffe, dass du eine »Krücke« sein wirst, wenn jemand dich braucht.
    »Ich habe auch ein Geschenk für Sie, Frau John. Ich habe es Anna Mohrmann abgekauft.«
    Sie holte ihr Lesebuch heraus und zog ein Blatt hervor, auf dem ein gepresstes, leicht verblasstes Vergissmeinnicht aufgeklebt war.
    »Das hat auch einen lateinischen Namen, Frau John. Die Anna hat ihn auch aufgeschrieben. Es heißt Myosotis. Ich musste ihr ziemlich viel dafür bezahlen.«
    Frau John sagte: »So etwas Schönes kann nie zu teuer sein. Mir jedenfalls wird es lieb und teuer bleiben.«
    Dann zog Frau John Ruth nahe zu sich heran und zeichnete ihr mit ihrem Daumen ein Kreuz auf die Stirn.
    Die Lehrerin blieb im Klassenraum zurück. Vor der Tür auf dem Hof standen mehrere Kinder dicht beieinander. Sie schienen auf Ruth gewartet zu haben. Ruth ging arglos auf sie zu. Vor ihr tat sich eine Gasse auf. Wie eine Mauer standen sie rechts und links.
    Eigentlich hatte Ruth bei ihnen stehen bleiben und sich verabschieden wollen. Als sie jedoch die finsteren Blicke sah, begann sie zu laufen. Sie fürchtete, verprügelt zu werden. Doch das geschah nicht. Erst als sie vorbei war, schrien die Kinder hinter ihr her: »Meinst, du wärst was Besseres, Zarski, wie? Endlich haut Johns Liebling ab … Lass dich nicht mehr im Dorf blicken, sonst …«
    Ruth rannte, bis sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte. Außer Atem setzte sie sich auf einen Kilometerstein und weinte. Sie hatte es immer gespürt, sie

Weitere Kostenlose Bücher