So weit die Wolken ziehen
hatte man ihr nachgerufen. Dein Vater ist ein Wasserpolack .«
»Mich könnt ihr nicht meinen«, hatte sie dann wütend gerufen. »Und wenn die Szepans, Kuzorras und alle anderen …-kis nicht gewesen wären, dann hätte Schalke 1934 niemals die deutsche Fußballmeisterschaft gegen die hochnäsigen Nürnberger gewonnen.« Meist hatte sie dann für eine Zeit lang Ruhe vor den Lästermäulern.
Der Besuch bei Lydia auf der Isolierstation war schwierig. Anna und Irmgard mussten im Freien warten. Ein Maschendrahtzaun hielt sie etwa drei Meter von dem Gebäude entfernt. Lydia durfte sich für eine halbe Stunde am geöffneten Fenster zeigen und mit den beiden sprechen. Anna hatte als Lohn für ihre erste Polnischstunde am Vormittag eine Apfelsine bekommen. Seit dem Weihnachtsfest vor acht Monaten hatte sie keine Südfrucht mehr gesehen. Die Lehrerin hatte von ihrem Bruder, der als Soldat in Italien im Lazarett lag, ein Päckchen mit drei Früchten erhalten.
»Berni ist erst siebzehn. Er hat bei Monte Cassino, bevor es aufgegeben worden ist, sein linkes Bein verloren. Bald wird in Italien für uns mit dem Krieg Schluss sein. Florenz ist schon verloren. Die Front rückt immer näher. Mit den Apfelsinen ist’s bald vorbei.«
Anna, die gern den Geschmack auf der Zunge gespürt hätte, war jedoch entschlossen, Lydia die Apfelsine über den Zaun zuzuwerfen.
Das Gespräch kam bald ins Stocken. Unvermittelt fragte Irmgard: »Lydia, wie kommt es eigentlich, dass deine Schwester Polnisch kann?«
Lydia erschrak. »Halt ja die Klappe, Anna!«, rief sie. »Und kein Wort über Poether. Du weißt ja, dass Mutter uns verboten hat, darüber zu sprechen.«
»Jaja. Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«
Kurz darauf trat die Schwester zu Lydia ans Fenster und rief den Besucherinnen zu: »Wir brauchen dringend jedes Bett für die Verwundeten. Wenn die Mohrmann Glück hat, kann sie Montag wieder nach Hause.«
»Nach Hause! Schön wär’s.«
Die Schwester wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Die Ferien neigten sich dem Ende zu. In der letzten Woche waren die Schülerinnen zum Ernteeinsatz befohlen worden. Die Kartoffeln mussten eingebracht werden. Die Mädchen kamen abends zwar müde von der ungewohnten Arbeit zurück in den Quellenhof, aber sie fühlten sich wichtig und stolz, weil es ohne sie wahrscheinlich nicht gelungen wäre, die Ernte unter Dach und Fach zu bringen. Das war ihrer Meinung nach etwas anderes als das Absuchen der Felder nach Kartoffelkäfern. Die schwarz-gelb gestreiften Tierchen sahen ja ganz lustig aus, aber die meisten ekelten sich vor den vielen Hundert weichen und krebsroten Larven. Es hieß, die Amerikaner hätten die Käfer aus ihren Flugzeugen abgeworfen, um die Deutschen in eine Hungersnot zu treiben.
Fünf neue Lehrpersonen waren eingetroffen, vier junge Frauen, die gerade ihre verkürzte Ausbildung hinter sich hatten, und ein kleiner, glatzköpfiger Mann, der aus dem Ruhestand in den Dienst zurückbeordert worden war.
Direktor Aumann lud das Kollegium zu einer Konferenz ein. Die Neuen wurden kurz vorgestellt und begrüßt.
»Die jungen Kolleginnen Weber, Hennig, Wisnarek und Theiß sollen den Unterricht der unteren Klassen abdecken«, sagte der Direktor. »Für sie und Studienrat Dr. Matheck sind genügend Quartiere im Ort gefunden worden. Dr. Matheck hat die Fächer Englisch und Geschichte.«
Die neuen Lehrerinnen hätten bis auf Frau Wisnarek auch als ältere Schülerinnen durchgehen können. Frau Wisnarek saß am Fenster und die Sonne zauberte einen roten Schimmer auf das zu einer modernen Pagenfrisur geschnittene Haar. Sie nahm während der Konferenz eine Zigarette aus einem schmalen Silberetui und bat Dr. Scholten um Feuer. Herr Aumann sah sie missbilligend an, aber sie schien das nicht zu beachten. Dr. Scholten reichte ihr sein Feuerzeug. Sie berührte leicht seine Hand. Ihm fiel auf, dass sie am Mittelfinger einen Goldring mit einem ovalen schwarzen Stein trug.
Vom alten Stamm wurde nur Frau Brüggen in der Unterstufe eingesetzt. Es musste wider Erwarten eine neue Eingangsklasse eingerichtet werden, weil genügend Eltern aus Oberhausen ihre Mädchen in Maria Quell angemeldet hatten. Die Kinder waren längst aus dem Ruhrgebiet weggebracht worden und wohnten in vermeintlich sicheren ländlichen Gebieten. Dort lagen die Oberschulen zum Teil weit entfernt. Die täglichen Fahrten mit der Reichsbahn, der Ausfall von Zügen, die schlechten Quartiere auch, all das hatte die Eltern
Weitere Kostenlose Bücher